8 // was der fuchs sagt
Der Schmerz lässt langsam nach. Daumen aus der Gelenkkapsel gerissen. Wieder eingesetzt. Ein leises Echo noch, ansonsten geheilt. Das Ich der Kolumnenzeit ist dieses Mal ziemlich nah verwandt zu dem der Weltzeit. Nachfolgend minimal verlängert und annotiert der fünfte Versuch einer taz-Kolumne.
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Autokorrektor 5 - Freiheit usw.
Unentschlossen schaut der Fuchs auf die halb verweste Ratte. Dann zu mir. Dann wieder zur Ratte. Und wieder zu mir. Aber ich weiß es doch auch nicht. „Kannste ganz allein für dich haben“, will ich ihm zurufen. Da wendet er sich ab und trottet langsam in Richtung des Großen Sterns. Nach ein paar Schritten dreht er sich herausfordernd um. Die aufgehende Sonne schillert durch die Bäume im Berliner Tiergarten. Ich sehe meinen Atem, während ich wenige Meter hinter dem Tier bleibe. Wir haben denselben Weg.
Play.
Die Wege wie mit Samt ausgeschlagen, herbstbelaubte Äste bilden bunte Tunnel. Gekauft hatte ich schon die Platte, dann die CD und jetzt bezahle ich also noch einen Streamingdienst dafür, dass Bachs Brandenburgische Konzerte auf Knopfdruck zur Verfügung stehen. Karajan wartet ungeduldig am Pult.1
Der Fuchs und ich, wir gehen nicht, nein, wir schreiten. Wie Fürsten, absolute Herrscher, beim Lustwandeln durch Gärten im französischen Stil. Rüschen, riesige Reifröcke, turmhohe Perücken; all-inclusive zum Barock-’n’-Roll. Zu jeder Zeit warten ein paar Musiker auf ihren Einsatz. Das Beste aus dem 16., 17. und 18. Jahrhundert halten sie vor. Kurz vor Moabit glänzt Versailles.2 Und wenn ich will, Woodstock, Glastonbury und die Loveparade dazu.
Pause.
Vollautomatisierte Playlists spülen mir die immer gleichen neuen Entdeckungen auf die Ohren. Dieser Roboter ist nicht mein Freund. Er kassiert allein für EMI, Sony, Universal und Warner. Die Künstler*innen würden an jeder Ecke hier im Park mehr pro Lied verdienen. Ein paar Dukaten hab ich immer griffbereit im Strumpfband. Wenigstens müssen die Philharmoniker nicht hungern.
Play.
Der Fuchs scheint mehr ein Tom-Waits-Typ zu sein, aber tolerant. Oder gerade deshalb. Es ist ihm egal, was ich höre, er hat seinen eigenen Rhythmus. Weitläufig umgehen wir die Absperrungen rund ums Schloss Bellevue. Staatsbesuch. Das Tier streunt, schaut hier und da. Räumt ein bisschen Aas und Gerümpel weg. Kaum jemand sieht ihn. Oder mich.3
Mein innerer Fürst bleibt als Echo auf den Kopfhörern, als ich den Park verlasse. Das hält bis vor das verspiegelte Bürohaus. Bis hierhin folgt der Fuchs. Er verschwindet auf dem Wirtschaftshof. Für mich heißt es Glastür, Empfang, Fahrstuhl, „The Girl from Ipanema“ ein letztes Mal.
Mute.
Skip. Skip. Skip. Play.
Endlich wieder draußen. Freiheit, Freiheit, A-l-g. Das Streamingabo ist gestrichen, das Strumpfband enger geschnürt. Doch wieder die CDs entstauben, digitalisieren und auf den ranzigen MP3-Player überführen. Noch einmal über den Bach schreiten, einmal schweben. Die Sonne steht inzwischen hoch über den Bäumen, blendet. Die Ratte ist verschwunden. Keine Ahnung wo der Fuchs ist. Treibt sich vielleicht noch bei den Mülltonnen rum. Ich weiß aber, dass ich nicht nach ihm schauen muss. Er wird mich finden.
Wir haben Zeit.
Volume up up up.3
1 Ok, full disclosure: Ich höre die Philharmoniker nicht unter Karajan, sondern mit Simon Rattle. Jedoch schien es mir weniger plausibel für den Text, dass ich von letzterer Aufnahme schon eine Schallplatte gekauft hätte.
2 Tatsächlich ist mir das erhabene Gefühl das Barock im Park macht eine relativ neue Erfahrung.
3 “Oder mich.” Das unterscheidet diese Version von der in der taz.
Mit großem Interesse gelesen: Eine ganz wundervolle Kolumne von Alina Schwermer über Reisen und Kommunikation. Klug und schön. Berührt mein Interesse auch deshalb, weil ich grad Material ganz allgemein zu Reisen rumliegen hab, das auf Verarbeitung wartet. Insbesondere beschäftigt mich die Frage, wie es sich nun wirklich verhält mit der Idee, dass Reisen bilde. Die Realität so vieler durchaus weit gereister Menschen scheint mir kein Beleg für diese These zu sein. Zu viele kommen mindestens genauso dumm zurück, wie sie losgefahren sind. Es ergibt wahrscheinlich mehr Sinn, auf jene zu schauen bei denen es anders läuft. Von den Besten lernen.
Mit großem Interesse gesehen: Grade noch so die Künstlerporträts von Roger Mehlis in der Galerie Pankow erwischt. Selbstverständlich auch ein bisschen Gamification dabei: Wen erkenne ich? Bei den Schriftsteller*innen war ich ganz gut dabei, bei den bildenden Künstler*innen und den Fotograf*innen war es dann aber sehr dünn. Besonders beeindruckend die royale Haltung der Christa Wolf. Hacks gutsherrlich inszeniert in seinem Schaukelstuhl vor geschwungenem Fenster. Hermlin, Heym, Hein. Die Menge der offiziös wirkenden (und in der Mehrzahl auch so gedachten) Porträtaufnahmen kann einen so geballt erschlagen. Da waren ein paar extra-Bilder von Biermann und vor allem Sarah Kirsch eine angenehme Auflockerung. Im Gang kurz vor der Garderobe Katharina Thalbach, noch nicht einmal 20 Jahre alt und alles steht schon in diesem Gesicht.
Es ist immer wieder schwer zu verdauen, diese Dichte der künstlerischen Kreise in der DDR, das unwiderruflich abgeschlossene dieses Sammelgebietes. Wie weit einige über die Grenzen dieses engen Landes ausgriffen. Ein paar Bilder vom Schriftstellertreffen 1965 in Weimar. Pablo Neruda (“Ich bekenne, ich habe gelebt”) und sein Übersetzer Erich Arendt (“Ich bekenne, ich habe von Pablo Neruda gelebt”, zitiert nach Adolf Endler, der sich vor 1990 anscheinend nicht so gern fotografieren ließ).
Sehen wir uns? Festival des osteuropäischen Films in, hüstel, Cottbus. 5. bis 10. November. Ich werde aus Sicherheitsabwägungen die Babelsberg-Jacke zu Hause lassen und dafür mal ein bisschen mehr von der Stadt sehen als nur den Weg vom Bahnhof zum Stadion unter Polizeibegleitung.
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