7 // fünf sterne für ein halleluja
Es ist wieder taz-Kolumnen-Woche. Nachfolgend also wie gehabt die annotierte Version des neuesten Versuchs, das Konzept der “Digital-Kolumne” zu dekonstruieren.
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Autokorrektor 4 - A bridge too far
Alles schmeckt nach Blut. Vom Unterkiefer spüre ich gleich gar nichts mehr. Da kreischt schon der Maileingang am Telefon. „Wir wollen uns stetig verbessern. Deshalb bitten wir Sie, Ihre heutige Erfahrung zu bewerten.“ Zwei Stunden lang wurden mir Schmerzen zugefügt, ein vierstelliger Betrag stand dafür auf der Rechnung. Ob ich wohl in 5-Sterne-Laune bin? Was meinen Sie, Herr Doktor dent.?
Früher war die Praxis noch inhabergeführt. Da wusste ich wenigstens, für wessen Porsche ich die Sitzbezüge mit meiner Wurzelbehandlung zahlte.1 Niemand fragte nach Bewertungen, die Kreditkarte war genug sozialer Schmierstoff. Dafür kam auch mal der Chef gucken. Seit dem Verkauf an irgendeine Investorengruppe jedoch gibt es nur noch angestellte Zahnärzt*innen, ein „Front Office“ und eben diese ständige Like-Me-Belästigung. Bewertet werden muss ja sowie alles. Jedes Restaurant, jede Kneipe, jeder Florist und die Frisörin; jedes Konzert, jedes Klo, jedes Buch; jedes Ferienhaus, jeder Feriengast und jeder Kuss. Ein Punkt, ein Stern, ein Himmelreich.
Eine Weile habe ich dabei sogar mitgemacht. So ein netter vegetarischer Laden. Der hat es doch verdient, dass er gut bewertet ist. Die Leute sollen wissen, dass das Essen prima schmeckt und der Service menschlich ist. Google Maps mochte mich sehr für meine Teilnahme an der Vermessung der Welt. „Möchtest du noch ein Foto hochladen? Bewertungen mit Bildern werden 24-mal häufiger angesehen als solche ohne. Schon mehr als 4.000 Menschen haben deine Bewertung gesehen.“
Ah, da will jemand meinen Ehrgeiz wecken, ganz eigennützig selbstverständlich. Gamification für das Menschenmaterial, Datenfutter für den netten Digitalkonzern von nebenan. Weniger Be-, mehr Verwertung. Aber nicht mit mir! Ich mach da nicht mehr mit! Auch, weil es einfach immer blöder wurde.
„Wie hat dir der Eiserne Steg gefallen?“ Tja, was soll ich sagen? Ist’ ne Brücke. Wir sind drübergegangen. Hat gehalten. Verdient allein das schon eine gute Bewertung? Eiserner Steg, Frankfurt am Main – vierkommasechs Sterne. Carolabrücke, Dresden – Ist es noch zu früh? Wie aber erkennt man den richtigen Zeitpunkt für so einen Scherz? Es ist ja niemand gestorben, und am 13. Februar 2 nächsten Jahres erinnert sich doch kein Mensch mehr daran.
Auf den Eisernen Steg brachte uns übrigens eine Stadtführung zu Orten des Widerstands zwischen 33 und 45.3 Da erfuhren wir vom Internationalen Sozialistischen Kampfbund (ISK), einer sektenhaften SPD-Abspaltung, die ihre Arbeit mit vegetarischen Restaurants (4 Sterne) finanzierte. Zwei Mitglieder des ISK waren in lauer Nacht 1935 zwischen Bahnhof und Mainufer als Liebespaar in klandestiner Mission unterwegs gewesen. Ein Koffer, an dessen Unterseite ein Stempel mit antifaschistischen Parolen angebracht war, musste immer wieder abgestellt werden, damit die beiden Turteltauben sich inniglich abknutschen konnten. „Was würden Sie für diese Küsse geben?“ 5 Sterne? Ach was, ein ganzes Herz!4
1 Tatsächlich war Dr. C.s Hobby, mit Freunden in Porsches alpine Serpentinen entlangzurasen. Nach dem ganzen Ärgernis mit der Praxisübernahme bin ich nun zu einer Ärztin gewechselt, die ihre Überschüsse in soziale Projekte gibt. Da macht das Zähneziehen gleich doppelt soviel Spaß.
2 Stadtschreiber von Dresden werd ich in diesem Leben nicht mehr.
3 Das war eine ganz tolle Stadtführung im Rahmen des an dieser Stelle schon erwähnten Festivals “Politik im Freien Theater”. Vom ISK hatte ich noch nie davor gehört. Für die Frankfurter Stadtgeschichte scheinen die gar nicht so unwichtig gewesen zu sein. Immerhin gehörte mit Anna Beyer eine herausragende Funktionärin der Organisation zu den lokalen SPD-Größen der Wiederaufbaujahre nach 1945.
4 Eigenartig auch, dass ich nach Jahrzehnten in denen ich, wenn überhaupt, nur widerwillig über Nazis schrieb, jetzt kaum zwei Absätze hinbekomme, ohne irgendeinen einschlägigen Bezug herzustellen.
Aktueller Text im Blog: Ein paar mäandernde Gedanken zu einer Reflektion Georg Seesslens über das Ende der Printzeitung.
Mit großem Interesse gelesen: Aeon über die offensichtliche Diskrepanz zwischen japanischem Minimalismus und der Alltagsrealität, die Geschichte kultureller Projektionen und Missverständnisse.
"The story of the world’s fascination with Japanese stuff is in many ways not about Japan at all. It is the story of our own changing desires, our social anxieties, our urges to consume and accumulate, and our realisation that possessing more things doesn’t necessarily translate into more happiness."
Der Text erzählt viel über den Transfer von Ideen, Formen, Moden usw. Sehr anregend, sehr informativ. Die Bilder von Lee Chapman, die Menschen in ganz schön voll gestellten Räumen zeigen, sind so so voller Leben, die machen richtig gute Laune. Und die Fotos von Kyoichi Tsuzuki, um dessen Buch Tokyo Style es in Teilen geht, strahlen trotz der gezeigten überfüllten Räume doch eine faszinierende Ruhe und Leere aus.
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