39 // die alte leier
Es ist viel von digitaler Souveränität die Rede dieser Tage. Zumeist ist das nationalistisches Gerassel. Dass es dabei aber mehr um Selbstorganisation gehen sollte, erläutert Anne Roth in einem lesenswerten Beitrag fürs nd. Ich streife das Thema entfernt im neuerlichen Versuch einer Digitalkolumne für die taz.

Autokorrektor 21 - Am Zapfhahn
Dass wir durchs Fenster einstiegen, befremdete beim ersten Mal noch ein wenig. Die schummrige Beleuchtung der Erdgeschosswohnung aber, die hier zur Kneipe umfunktioniert worden war, fand schnell ungeteilte Zustimmung. Die preisgünstigen Getränke sowieso. Das Haus war besetzt. Im für die Nachbarschaft offenen Lokal bollerte winters ein riesiger Kachelofen, die Boxen kreischten zu jeder Jahreszeit beide Arten Musik: Crustpunk und Grindcore. Oder manchmal ABBA. Je nachdem wer den Ausschank innehatte.
Anders als an den meisten anderen Orten im hippen Stadtzentrum, konnten wir hier ohne Geld und Konsumdruck ungestört rumsitzen und den unsterblichen Geist der Bohème beschwören. Nur wenn Plenum war verdrückten wir uns, damit wir nicht doch noch zu Tresendiensten überredet würden.
Na, das sind uns die Liebsten. Nie aktiv sein wollen, immer nur Gast. Das funktioniert schon, solange das Geld locker sitzt und der Wirt deiner Stampe kein Nazi ist. Für das eine wie das andere gibt es jedoch keine dauerhafte Garantie. Soziale Infrastruktur ist halt ein fragiles Gebilde, das besser in solidarischer Gemeinschaft betrieben wird, statt es den Zwängen und Zufällen des Marktes zu überlassen. Egal ob der Tresen mit realer Zapfanlage daherkommt oder ein virtuelles Wohnzimmer ist.
Ja, sorry, es wird schon wieder die alte Leier, und nein, es führt wirklich kein Weg vorbei an selbstorganisierter unkommerzieller Vernetzung. Auch wenn es richtig beobachtet ist, dass die Welt sich nicht einfach über ethischen Konsum und sonstiges individuelles Wohlverhalten zum besseren verändert: Ganz ohne persönlichen Einsatz für die Utopie funktioniert es eben auch nicht.
Im digitalen Raum heißt das zunächst, sich der verwendeten Werkzeuge bewusster zu werden. Überhaupt erst einmal lernen, wie die funktionieren und wer die zu welchen Zwecken sonst noch so benutzt. So versucht zum Beispiel noch jedes nächste große Netz-Ding Risikokapital einzuwerben, und das mit dem Versprechen permanenter Expansion. Die funktioniert aber nur über die ganz prinzipielle Verachtung der eigenen Nutzer*innen. Ich bin wirklich kein Fan, mag aber Grindcore deutlich lieber, als die immer gleich sterile Kaufhausbeschallung die da so aufspielt.
Der besondere Wert eines funktionierenden sozialen Netzwerkes besteht doch nicht darin, dass wir dort nur bereits bekanntes wiederfinden. Für neues und anderes aber müssen wir schon manchmal durch Fenster steigen und, besser noch, gelegentlich eine Putzschicht übernehmen. Gemeinsam mit anderen. Wenn es auch kein richtiges im falschen Leben geben mag, am erträglichen wenigstens sollten wir uns bisweilen versuchen. Und das kann nur abseits der menschenfeindlichen Konsumhölle des Überwachungskapitalismus geschehen.
Solche Lokale in Erdgeschosswohnungen gibt es übrigens immer noch. Und wenn man die Lautstärke ein bisschen runterdreht… Nee, Quatsch, mein Tresen heut und wir wissen alle, was das heißt: The Winner Takes It All!
Weiterlesen im Blog.
Mit großem Interesse gelesen: Es gibt ja wieder eine Weltbühne. Die hat erwartungsgemäß nicht so viel zu tun mit dem Orginal. Frédéric Valin hat die erste Ausgabe gelesen und freundlicherweise seine Bewertung notiert und spart uns auf diese Weise Geld und Zeit.
Außerdem: 8 Jahre nach dem viel zu frühen Tod des Künstler-Aktivisten-Journalisten-Tausendsassa Armin Medosch ist seine Betrachtung zu Network Commons jetzt in Buchform erhältlich, unter anderem beim Institute of Network Cultures als kostenloser Download. Es ist auf jeden Fall eine interessante Dokumentation der Versuche in freien Wlan-Netzwerken (Freifunk et al). Hinzu kommen durchaus anregende Gedanken zum ideologischen Überbau, den Commons eben. Das ist alles noch ziemlich skizzenhaft mit wenigen redaktionelllen Eingriffen wie mir scheint, und schon eher für ein im weitesten Sinne Fachpublikum aufgeschrieben. Ich hoffe jedoch, dass hier nicht einfach nur archiviert/musealisiert wird, sondern Medoschs Ideen weiter diskutiert und entwickelt werden.
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