31 // allein im wald
Ich befinde mich in meiner Rotkäppchen-Phase. Ein bisschen naiv, ein bisschen verloren. Aber ich kenn den Jäger. Ein weiterer, diesmal recht seriös geratener Versuch einer taz-Kolumne folgt gleich. Ich höre öfter von meinen viereinhalb Leser:innen, dass die beste jene mit dem Fuchs gewesen sei. Sie kennen noch nicht die mit dem Eichelhäher. Das wird voraussichtlich die letzte werden. Ist nicht mehr lange hin.

Autokorrektor 17: Verantwortung übernehmen
Wenn in der stillen Weite des Urwalds ein Baum umfällt und wir unter ihm begraben werden – ist das dann wirklich passiert? Dass Nachrichten auch in Zeitungspapier gewickelte Lügen sein können, ist keine frische Erkenntnis. Dass sie uns einfach nur erschlagen, scheint mir auch kein gänzlich neues Gefühl zu sein.
Schon das lineare Fernsehen erhöhte über Jahrzehnte die Taktzahl und -tiefe der Nachrichtenübermittlung deutlich gegenüber dem gemütlichen Zeitalter der „Wochenschau“ im Kino, wo Kanonendonner bisweilen schneller heranrollte, als der Regisseur „Aktion!“ rufen konnte.
Marshall McLuhan schrieb schon 1964 davon, dass die Geschwindigkeit elektrischer Verbindungen das Bild der Welt implodieren ließ und damit das Bewusstsein einer zumindest vagen eigenen Zuständigkeit ins geradezu Unermessliche steigerte. Das permanent verfügbare mediale Fenster hob vormals ignorierte gesellschaftliche Gruppen nicht nur über die Wahrnehmungsschwelle. Die eigene Verantwortung für die Lage der Dinge wurde individuell spürbar.
Etwas sehen begründet zwar nicht zwingend Teilnahme, ist aber doch implizite Aufforderung. Gewalt, Hunger, Diskriminierung – Fernsehkameras beendeten die stillschweigende, gegebenenfalls räumlich eingeschränkte Verhandlung gesellschaftlicher Widersprüche.
Mit der digitalen Revolution beschleunigte sich die Informationsübermittlung nochmals. Die Demokratisierung der Technologie, preisgünstiges Equipment und simpel zu bedienende Social-Media-Kanäle erlauben es, noch jede Nische hell auszuleuchten. Und doch erscheint das jeweils Andere inzwischen wieder weiter entfernt als die Milchstraße. Das Medium hat seine Botschaften offenbar längst überholt.
War es bei der Informationsvermittlung vielleicht einmal der Wunsch, den Dingen auf den Grund zu gehen, sie wirklich zu kennen, ist der in sein Gegenteil verkehrt. Nicht die Nachricht, sondern ihre oberflächliche Performance bestimmt die Wahrnehmungen und damit letztlich die Realität. Die autoritäre Renaissance hängt wesentlich davon ab, Wahrnehmung zu begrenzen und das Bewusstsein jeglicher Zuständigkeit noch für irgendetwas auf der Welt abzutöten. Flood the zone with shit.
Doch damit nicht genug. Kaum jemand glaubt so sehr an die Macht des Worts und korrekter Information wie autoritäre Herrschaft. Die Verbote inklusiver Sprache zum Beispiel sind deshalb nicht einfach nur Symptom eines hitzigen Kulturkriegs. Genauso wenig wie „Say Their Names“ lediglich Pfand sentimentaler Trauer ist. Beides ist Ausdruck zweier Seiten eines Machtkampfs.
Das Andere oder, entscheidender, die Anderen unsichtbar zu machen, ist Bedingung ihrer Unterdrückung. Sie hingegen dem Vergessen zu entreißen, heißt, Verantwortung zu übernehmen. Über sie zu sprechen, manifestiert Wahrheit. Realität ist schließlich so komplex und divers wie ein Urwald. Und wenn in dessen stiller Weite ein Baum gefällt wird, gibt es keine Unbeteiligten.
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Aktueller Text: Zum Überwachungskomplex hatte ich letzte Woche was für den Freitag gemacht. Anlass war ein bisschen noch die Geschichte, dass der Bundesrat die Palantir-Software gerne eingesetzt sehen würde. Der Koalitionsvertrag geht ja auch deutlich in die Richtung umfassender Vernetzung der verschiedenen behördlichen Sammelpunkte. Konstantin von Notz hat sich jetzt, wo seine Grünen zurück in der Opposition sind, wieder daran erinnert, dass er ja für Bürgerrechte zuständig ist und erwägt eine Klage gegen die Nutzung des Programms. Viel Spaß mit den Länderregierungen, an denen die Grünen beteiligt sind.
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