30 // sozialistischer realismus
Chemnitz ist keine sonderlich schöne Stadt. Das „sächsische Manchester“ muss ja schon in seiner Blütezeit mehr nach Industriearbeit, denn nach Lustwandelei ausgesehen haben und das soll jetzt keine unberufene Romantisierung proletarischer Lebenswelten einleiten. Grönemeyer mochte, wie wir wissen, sein Bochum ganz besonders „vor Arbeit ganz grau“. So warm sind meine Gefühle hier nicht, auch wenn Chemnitz ein Ort meiner Kindheit ist, wahrscheinlich aber kein entschieden prägender.
Meine Erinnerung ist die an eine Brache in der Mitte der Stadt. Das war eine auch in den 1980ern noch unübersehbare Kriegswunde, die nach der Wiedervereinigung denkbar hässlich überbaut wurde durch ein riesiges Parkhaus nebst Einkaufzentrum. Der früher etwas verloren herumstehende, von der fast völligen Zerstörung der Stadt im Zweiten Weltkrieg verschont gebliebene Rote Turm, ist nun zweiseitig von höher aufragenden Wänden der neu erbauten Shopping-Mall umschlossen.

Stehen geblieben nach 1990 ist noch der zentrale Bau aus der DDR, der Stadhallenkomplex und gegenüber der Nischel, wie die Einheimischen den riesigen kupfernen Kopf des zwischenzeitlichen Namenspatrons der Stadt, Karl Marx, auch schon in meiner Kindheit nannten. Die Stadthalle zeigt derweil außen wie innen recht kühne Modernität. Ganz schön monumental, aber durchaus einladend dabei. Das rötliche, aus der Gegend stammende Gestein der Verkleidungen (für Geologieinteressierte: Rochlitzer Porphyr) gibt einen freundlichen rötlichen Grundton. In und um den Bau finden sich einige Kunstwerke, die auch in meinen Schulbüchern besprochen wurden. Das vielleicht bekanntest davon ist Fritz Cremers Galilei.
Bockwurstgeruch begrüßte mich im Foyer, als ich nach einem langen und sehr lehrreichen Tag bei den Chemnitzer Linuxtagen zum Kulturprogramm mit der Familie eilte: Konzert des Sächsischen Sinfonieorchesters Chemnitz e.V. Für mich war das eine Premiere, hatte ich bis zu diesem Abend doch noch kein Amateurorchester spielen hören. Das Programm: Gassenhauer. Rossinis Tell-Ouvertüre (die ganze, nicht nur der Schunkelteil am Ende) rummste ordentlich, dann Klavierkonzert Nr. 1 von Tschaikowsky. Das getragen vor allem von der zugebuchten Solistin. Dann Pause und etwas Angst vor Beethoven 5 im zweiten Teil des Konzerts.
Tatsächlich war der Kopfsatz recht breiig dahingemetzelt, aber irgendwie wurde es ab dem zweiten dann doch besser. Mit dem dritten und dem vierten Satz schien das Zusammenspiel dann schließlich wieder erbaulich zu sein. Und während der ganzen Zeit und noch lange danach versuchte ich zu verstehen, warum. Offenbar habe ich da eine kognitive Dissonanz. Beethoven, die Sinfonien zumal, ist nichts für Amateure? Dabei sollte ich genau das doch großartig finden, was ich da gesehen habe: den demokratischen Zugang zur hohen Kunst vorbei an Geniekult und Perfektionismus.
Schon während des Konzerts der Gedanke, dass die auf der Bühne den Beethoven erleben, wie ich es gar nicht könnte. Nicht einfach nur konsumieren, selber heranwagen, im Zweifelsfall scheitern. Auf jeden Fall mittendrin. Später dann, weil es mich nicht loslässt, erweitert sich das um die Überlegung, dass Aneignung eben auch delegiert erfolgen kann. Das geschieht aber nur dann überzeugend, wenn die Proxies nahbar sind; mir ebenbürtig.
Wenn das glaubwürdig gelingt, wird Spezialisierung oder Arbeitsteilung vom Trennenden zum Verbindenden. Die da oben sitzen, tun das nicht, weil sie etwas besseres sind, sondern weil sie das Beste unseres Gemeinsamen präsentieren. Dann bin ich nicht mehr einfach nur passives Publikum, sondern Teil der Aufführung. Mag sein, dass das Orchester in der Chemnitzer Stadthalle gar nicht „besser“ wurde im zweiten Satz der 5. Sinfonie. Eventuell habe ich nur einfach besser zugehört. Anders. Teilnehmend. „Wer wohnt schon in Düsseldorf…“ Ja, danke Herbert.
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Mit großem Interesse lesend: “Ich habe noch nie in Ostdeutschland gewohnt.” - informiert Marcus Hammerschmitt aus Magdeburg, einem anderen Ort meiner Kindheit, wo er in der nächsten Zeit stadtschreiben wird. Ich bin sehr gespannt auf das, was er sieht und zu erzählen hat.
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