3 // roll over beethoven
Manche Texte von mir sind von vorne bis hinten erfunden. Aber das nur nebenbei. Es ist taz-Kolumnen-Woche, deshalb nachfolgend der fußnotenbewehrte zweite Versuch, inklusive schonungsloser Enthüllung der einen oder anderen Flunkerei im veröffentlichten Text.
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Autokorrektor 2 - Ebookreader-Tristesse
Jedes Mal, wenn sich das Nachbarskind beinahe die Finger bricht an „Für Elise“, will ich durchs Haus rufen, dass ein bisschen mehr Übung nicht schaden tät. Andererseits trennt das Klavier und mich nur eine bröselige Altbauwand, behelfsmäßig gedämmt mit Bücherregalen. Ich halte mich deshalb mit Ratschlägen zurück und hoffe still, dass Frustration oder Pubertät die musikalische Früherziehung bald beenden.1
Die Regale werden dann genau dort stehenbleiben. Die machen sich gut als Hintergrund in Videokonferenzen.2 Repräsentative Werksausgaben glänzen da neben Raritäten diverser Ost-Dissidenten. Dämmung, Deko, DDR: Dafür sind die Papierbücher noch zu gebrauchen. Zum Lesen aber ist der E-Book-Reader viel geeigneter. Das wird besonders deutlich jetzt, wo er kaputt ist.
Missmutig wühle ich mich durch den Stapel papierner Leseschulden, der am Nachttisch einstaubt. Ordentlich hinsetzen muss ich mich dazu, wie so ein Urmensch. Im Liegen lesen sich die Dinger nämlich doof, knicken weg, sind zu schwer. Ständig ist es zu dunkel, die Schrift ist nicht vergrößerbar und Notizen lassen sich auch nicht vernünftig sammeln, sortieren und kontextualisieren.
Immerhin kann ich meine Handschrift auf dem knittrig-fleckigen Zettel daneben noch lesen: „Dem Stillesitzen bin ich zugethan. Es bewegt sich die Erde, warum noch ich?“ Sehr schön, lustig auch, aber wer hat’s gesagt, in welchem Buch? Blätterrascheln. Ach ja.3 Aber was war der Kontext? Keine Ahnung. Vergessen, die Seitenzahl zu notieren. Das Leben ist zu kurz.
Nur ein Klick wäre das gewesen auf dem Reader. Auf den neuen freue ich mich sooo sehr.4 Der ist handlich, formatoffen und wie sein Vorgänger frei von irgendwelchen Zwangs-Shops. Seine ganze Nützlichkeit unter Beweis stellt so ein digitales Hilfsmittel nämlich nur jenseits der Plattformen. Vollständig unter eigener Kontrolle muss es sein. Mehrere Regalmeter Literatur, inklusive bisheriger Anmerkungen kann ich problemlos wieder darauf übertragen. Es gilt der alte Piratendreisatz: Kopieren, teilen, sichern.
Das Digital-Rights-Management der Copyright-Extremist*innen hingegen ist des Teufels. Die famose Cloud ist zwar gut fürs Teilen, aber kein sicheres Backup. Verlage und Vertriebe ändern gerne mal ihre Lizenzbedingungen und -preise, schalten aus Versehen Server ab oder gehen Pleite. Und dann ist alles weg. Oder teurer. Oder mit Werbung durchsetzt. Das digitale Plattformgeschäft ist eben nicht für Leser*innen und Autor*innen gemacht, sondern für Kaufleute. Dagegen sind selbst antiquarisch erworbene Papierbücher eine richtige Investition für die Urenkel.
Ironisch am ostdeutschen literarischen Untergrund ist übrigens, dass er heutzutage genauso schwer erhältlich ist wie zu DDR-Zeiten und zwar weder kartoniert, noch elektronisch. Damals verboten, heute schwer verkäuflich. Aber keine Sorge, ich verborge auch mal das eine oder andere Buch. Jedoch ausschließlich im Tausch gegen ein jeweils ähnlich großes.5 Sie ahnen es bereits: Ist nicht für mich, ist für Elise.
1 In Wirklichkeit übt das Kind schon seit mindestens einem halben Jahr nicht mehr regelmäßig. Unregelmäßig jedoch vergeht sich inzwischen ein mutmaßlicher Besuch an der Appassionata. Es gibt bei Lothar Kusche (Ex-Mann von Renate Holland-Moritz, DDR-Humorist, google halt mal!) eine Geschichte nachbarschaftlichen Piano-Leidens, aus der mir ein Viertelsatz wohl für immer im Gedächtnis bleiben wird. Und zwar träumt darin der an den Nerven völlig zerrüttete Ich-Erzähler davon, sich des Nachts in die Wohnung nebenan zu schleichen, “nur mit einer Axt bekleidet”. Das ist doch mal Literatur, die mich wirklich abholt.
2 Die Regale stehen gegenüber meines Schreibtischs. Der Hintergrund für Videocalls ist eine von mir geschmackvoll tapezierte, ansonsten aber schmucklose Wand.
3 Der Zettel begleitet mich seit mehr als drei Jahrzehnten und ich habe wirklich keine Ahnung woher der Satz kommt.
4 Tatsächlich ist der neue Reader schon längst da und ich bin sehr happy. Die Kolumnenidee entstand übrigens mit einem blöden Übertragungsfehler bei der Lieferadresse und dem daraus folgenden, etwas seltsamen Mailverkehr mit dem Hersteller, worauf … Ich höre Sie schnarchen? Keine Sorge, geht mir genauso.
5 Selbstverständlich verborge ich keine DDR-Raritäten. Auch nicht im Tausch gegen irgendwas.
Sehen wir uns?
Frédéric Valin stellt am 24.9. im Mehringhof gleich zwei Bücher vor. “Ein Haus voller Wände” und “Pflegeprotokolle”.
Mit großem Interesse gelesen: Ein Interview in The Conversation mit Saul Justin Newman, frisch gepackener Träger eines Ig-Nobelpreises. Gewürdigt wurde Newmans Recherchen zu Superalten. Im Kern hat er nachgewiesen, dass die meisten Statistiken zu Menschen, die älter als 105 Jahre werden, ziemlicher Müll sind. Dabei zeigt er neben jeder Menge Humor einen interessanten Blick auf soziale Fragen und praktische Probleme, die aus dem ganzen nutzlosen Studienmaterial entstehen.
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