23 // schnapskirschen
Bald acht Jahre hab ich's vor mir hergeschoben, jetzt dann doch endlich gelesen. "Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß" von Manja Präkels. Viel gepriesen und bepreist, völlig zu Recht selbstverständlich. Ich hatte ja auch nicht so lange gewartet, weil ich mit einem schlechten Buch gerechnet hätte. Zumal ich bis hierher alles von ihr mit größtem Gewinn gelesen hatte. Oder genauer: Für mich ist Manja Präkels die maßgebliche Stimme aus meiner Generation Ostdeutschland. Von niemand sonst fühle ich mich so genau gesehen, beschrieben und verstanden.
Was mir beim Lesen von Schnapskirschen noch deutlicher als bei den kürzeren Texten von Präkels auffällt, ist das entschiedene Beobachten. Die einfach gehaltenen Satzkonstruktionen, die verständliche Sprache ist meinem Eindruck nach nicht einfach nur zielgruppengerecht (Genre "Jugendroman"). Die Form hilft außerdem, der Versuchung zur Interpretation zu widerstehen.

Vielleicht ist das auch das Problem, das ich mit so vielen Texten zu den sogenannten Baseballschlagerjahren habe. Dass sie schon seit Jahren immerzu einordnen, bewerten, herleiten usw, während das konkrete Geschehen und Erleben jener Zeit noch nicht einmal im Ansatz erzählt ist. Es wird immer eine Gemeinsamkeit der Erfahrung vorausgesetzt, ohne eine Verständigung darüber in Gang gesetzt zu haben, was eigentlich passiert ist.
Das mag vielleicht etwas seltsam klingen, aber tatsächlich fehlt es an allen Ecken und Enden an einer Dokumentation jener Zeit voller Gewalt und Angst. Die bekannten (und tatsächlich von so vielen schon wieder vergessenen) Bilder aus Lichtenhagen, Hoyerswerda usw haben "wir" in der Regel auch nur im Fernsehen gesehen. Die gaben aber nicht die Alltäglichkeit der Bedrohung wieder. So wie Präkels es beschreibt: "Dann heulten alle. Für uns war nichts mehr drin. Sie waren überall. Und nun sogar im Fernsehen."
Das was jeden Tag geschehen ist - oder jeden Tag geschehen konnte - davon gibt es keine spektakulären Fernsehbilder. Das wollten schon damals viele lieber nicht sehen. Nochmal Schnapskirschen:
"Sie haben Michael Müller zusammengeschlagen."
"Schon wieder? Warum denn nur?"
"Ohne Grund."
"Es gibt immer einen Grund."
"Weil er lange Haare hat?"
"Das ist doch kein Grund."
"Sag ich doch."
"Jetzt hör aber auf!"
"Ich soll aufhören?"
"Na, ihr dürft nicht immer provozieren."
Dieser Unglaube im Angesicht der rohen, im engeren Sinne "grundlosen" Gewalt ist einer der wichtigen taktischen Vorteile der Faschos. Denn dieser Unglaube verlangsamt die dringend nötige Reaktion erheblich. Es ist dazu für jene, die die Gewalt erfahren, eine zusätzliche Demütigung, dass mindestens implizit ihr Erleben in Zweifel gezogen wird. Und das sogar noch, wenn die sichtbaren Spuren kaum zu leugnen sind.
Das Hinschauen zu lernen, die Wahrnehmung der Bedrohung zu schärfen, auch wenn die unmittelbare Betroffenheit noch nicht realisiert ist, dürfte angesichts der Konjunktur rechtsradikaler Menschenfeindlichkeit auf allen Ebenen, auch weiterhin sehr wichtig sein. Mit Manja Präkels lässt sich das im Blick auf die letzten gut 30 Jahre hervorragend einüben.
Apropos nicht realisierter unmittelbarer Betroffenheit sollte erwähnt werden, dass wer nichts sieht, trotzdem keineswegs entkommen wird: "Anfangs war es mir vorgekommen, als sei das Leben in der Kreisstadt trotz allem ein besseres. Langsam begriff ich, dass ich mich nur weniger auskannte und darum weniger sah." Wie gesagt, maßgebliche Stimme.
Weiterlesen im Blog.
Mit großem Interesse gelesen: Tom Strohschneider gibt in seinem Newsletter einen knappen (nicht kurzen :) Überblick zum Debattenstand in der Frage, ob es sich beim Trump und internationalen Derivaten nun tatsächlich um Vertreter eines neuen Faschismus handelt. An den weiterführenden Links kann man sich dann noch ein paar Tage festlesen.
KI-Radar: Nachrichten von Skynet. Aber anders als im Film.
Trump und der neue Faschismus: Rainer Mühlhoff hat die F-Frage im Verfassungsblog recht eindeutig beantwortet. Das sehr lesenswerte Stück referiert transparent die angelegten Kriterien und urteilt anhand der Kernthese eines Antagonismus, nicht der Player innerhalb eines Systems, sondern zum System: “Ziel der faschistischen Politik ist die Übernahme des Apparats, nicht eine bestimmte Politik innerhalb desselben.”
Dabei zieht Mühlhoff eine Verbindungslinie zwischen politischem Programm, ökonomischen Interessen der Digital-Elite und den gegebenen technologischen Möglichkeiten. KI als dehumanisierende Sortierungsmaschine spielt hier eine unrühmliche Hauptrolle:
“Qualitativ neu an dieser autoritären Digitalisierung des Staatswesens […] wird das Element der Prädiktion sein: Die Stärke von KI liegt darin, aus unvollständigen Datensätzen die Informationen „abzuschätzen“, welche die Individuen zu Recht nicht über sich preisgeben, zum Beispiel ihre politische Einstellung oder sexuelle Orientierung, Krankheitsdispositionen, Substanzenmissbrauch und psychiatrische Leiden. KI-Auswertung von Verwaltungsdaten ermöglicht eine präemptive Ungleichbehandlung von Individuen”
Datenschutz klingt gleich viel interessanter, nicht wahr…
Anatomy of an AI-Coup: Eryk Salvaggio konzentriert sich bei techpolicy.press auf den technologischen Teil und zeichnet ein düsteres (und plausibles) Bild über Personal, Methoden und Ziele des Putsches in den USA. Dabei sieht er ähnliche Gefahren wie Mühlhoff, was die Folgen der Automatisierung administrativen Handelns angeht.
Ein Schwerpunkt liegt hier bei der Erzeugung einer, wie ich es nennen würde, anti-politischen Sphäre, in der Entscheidungen von demokratischen Prozessen unberührt durch opake technische Systeme, der ultimativen Expertenregierung also, getroffen werden. Die Macht hat, wer diese Systeme steuert. Oder wie Salvaggio es ausdrückt: “Do not ask if the machine[s] can be trusted. Ask who controls them.”
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