21 // lässig bleiben
In den letzten Monaten hab ich hier ja immer mal wieder ein paar Gedanken zu dem ganzen Lichtenhagen/Baseballschlägerjahre-Komplex, zu Erinnerung und Angst notiert. In der nachfolgenden Geschichte verlässt das ein bisschen die abstrakte Ebene und wird etwas konkreter. Das nur als Triggerwarnung vorneweg.
Weiterlesen im Blog.
Die Plattenbauviertel des Rostocker Nordwestens liegen beidseitig der S-Bahntrasse aufgereiht wie Burgen, mit ihren Wällen und Türmen aus Beton. Von Süden geschaut zeigen sich links erst die Hochhäuser von Evershagen und Lütten-Klein. Danach kommt Lichtenhagen, bevor unattraktive Leere bis an den Badeort Warnemünde reicht. Rechts versetzt gegenüber liegen Schmarl und Groß-Klein. Die Haltepunkt der S-Bahn sind durchgängig auf links benannt. Das ist der früheren Fertigstellung jener Viertel geschuldet. Ortsfremde auf der Durchfahrt denken sowieso zumeist, dass das alles eins sei.
Die Straßen hier waren in den frühen 1990ern recht sicher. Im Vergleich mit Dierkow und Toitenwinkel jedenfalls. Die jüngsten Neubauviertel der DDR waren das, im Nordosten der Stadt gelegen, auf der anderen Seite der Warnow. Zumindest hielt sich westseitig hartnäckig das Gerücht, dass es da drüben besonders gefährlich sei. Aber vielleicht war das auch ein wenig so, dass die einen den Splitter im Auge der anderen lediglich eher als den Baseballschläger im eigenen bemerkten. Wer will das heute schon noch nachvollziehen.
Der Bewegungsradius war so oder so beschränkt. Lieber in der eigenen Gegend bleiben, wo die lokalen Schläger schon von Weitem ausgemacht und mögliche Fluchtwege bekannt und erprobt waren. Gelegenheiten, sich in unvertrauteren Betonburgen aufzuhalten, waren nie sonderlich willkommen. Besser die Hölle, die man kennt.

Nun kam es aber vor, nicht zuletzt nachdem dann endlich die Schultypen von POS auf westdeutsches Selektionspuzzle umgestellt waren, dass Bekannt- und Freundschaften sich bildeten über die engen Grenzen der geläufigen Hinterhöfe hinaus. Die Notwendigkeit einer gewissen Mobilität stellte sich ein. Öffentliche Verkehrsmittel waren dabei keine einladende Option: während der Fahrt abgeschlossene Räume ohne Ausgang. Das Fahrrad bot sich an. Das hier ist übrigens nicht die Geschichte, wie du auf dem alten Verbindungsweg wie ein Irrer in die Pedalen getreten bist. Kraftübertragung wie nie zuvor. Und wahrscheinlich nie danach. Du ahntest: Um dein Leben. Als ein paar Wochen später von einem berichtet wurde, der genau an der Stelle ins Koma … da wusstest du.
Hauptsache nicht Toitenwinkel.
Die jugendlichen Kosmopoliten aus unterschiedlichen Ortsteilen trafen sich gerne auf neutralem Boden. Neutral nicht wegen eines übertriebenen Lokalpatriotismus, sie wussten schließlich ganz gut voneinander, was sie jeweils für einen Mist vor der Tür hatten. Neutral eher im Sinne der Distanz zu allem gewohnten, mit dem Wunsch nach einer gewissen Normalität. Tourismus zum Beispiel konnte ein ganz gutes Grundrauschen anbieten, worin einzutauchen prekären Schutz bot. So spielten sie Billard in einer Spielhalle neben dem Kurhaus im Schatten des Hotel Neptun in Warnemünde. Das kam zwar etwas teurer, aber mit dem Fahrrad war ja schon mal das Geld für die S-Bahn gespart. Eine der Aufseherinnen mochte außerdem die drei Jungs und sagte auch nichts, wenn die bei Treffern die Kugeln an den Taschen festhielten und beiseite legten. So reichten die 5 Mark für nominell drei Matches doch länger, als bei ihrem schlechten Spiel ohnehin zu erwarten war.
Diese Geschichte spielt übrigens gar nicht in Warnemünde. Tut mir leid. Das tut mir wirklich sehr leid. Vielleicht hilft es dir ja zu wissen, dass kein Blut fließen wird. Es geht nämlich nicht um die Male, wo sie dich gekriegt haben. Und auch da, seien wir ehrlich, war es keine fernsehtaugliche Splatter-Show. Geschlagen zu werden ist ziemlich unspektakulär. Paar blaue Flecken, bisschen dicke Lippe, verletzter Stolz vielleicht. Vor allem verletzter Stolz.
Nein, diese Geschichte trägt sich in Groß-Klein zu. Das war nie deine Homezone, nicht wahr. Lütten-Klein, Schmarl, mit Abstrichen Lichtenhagen. Deine beiden Freunde aber kamen aus Groß-Klein.
Vielleicht hundert Meter vor möglichen Zielen, des einen oder anderen zu Hause, in Sichtweite des S-Bahn-Haltepunktes Lichtenhagen, steht da dieser leicht angetrunkene Fascho. Den beiden bekannt, dir nicht. Sie grüßen, er will reden. Sie lassen sich drauf ein. Die Hölle, die sie kennen. Die sie jeden Tag navigieren müssen. Was willst du machen? Stehst daneben, während deine Freunde mit dem Nazi plaudern. Man hat dich höflich nuschelnd vorgestellt. Handschlag.
Deine Begleiter gelten als unpolitisch. Das wärst du auch gern gewesen, aber seit du gleich 1990 mit Pali-Tuch durch Schmarl stolziert bist (jaja, nicht sehr klug, auf so vielen Ebenen), ist dieser Zug abgefahren. Dein Ruf als Zecke ist jedoch nicht bis Groß-Klein vorgedrungen. Anderes Viertel halt. Du lenkst schon wieder ab. Worüber plaudern sie denn, deine Freunde und der Nazi?
Es redet vor allem er. Erzählt, wie er kürzlich erst einen Schwulen verprügelt habe. Vielleicht mit anderen zusammen, du registrierst die Details in dem Moment nicht so genau. Aber machen wir uns nichts vor: Ganz sicher mit anderen zusammen. Er ist unzufrieden mit der Prügelei, da der Schwule sich gar nicht gewehrt habe. Und gegrinst habe der die ganze Zeit. Auch als er schon am Boden lag. "Ich hab dem immer wieder in die Fresse getreten und das Drecksgrinsen ging da nicht raus." Achte auf deine Körperhaltung. "Immer und immer wieder. Die schwule Sau hat nicht aufgehört zu grinsen." Lässig bleiben. Unbeteiligt.
Was du in den Augen von diesem Bekannten deiner Freunde siehst, ist übrigens Mordlust. Nicht mal Hass, einfach nur Spaß an der Sache. Du hast gar keine Zeit, das genau so zu benennen und zu verarbeiten, so sehr bist du mit deiner Angst beschäftigt. Denn du fühlst die Bedrohung durch ihn sehr deutlich. Immerhin eins hast du ihm aber voraus. Anders als er weißt du in dem Moment, dass er dich meint.
Er darf nur die Angst nicht bemerken. Niemand durfte die Angst je bemerken.
Als ihr, deine beiden Freunde und du danach weitergegangen seid, spracht ihr nicht darüber. Worüber auch? Das war ja ein ganz gewöhnlicher, nachbarschaftlicher Plausch, 1992 in Groß-Klein. Die Angst ist dann aber doch eine sehr lange Zeit bei dir geblieben. Tief drinnen vergraben; unter der Angst vor der Angst.
Aktueller Text: Also, “aktuell”, weil die Sau zum Zeitpunkt des Versands dieses Newsletters dann doch schon ganz ordentlich durchs Dorf usw. Aber nach fast 25 Jahren das erste Mal wieder für den Freitag geschrieben. Es geht um den Hitlergruß von Elon Musk. Es ist wieder ein Versuch, nicht das Entertainment an der Oberfläche zu besprechen, sondern hinter die Show zu schauen. So kam ich gedanklich an der eigenartigen Stelle an, wo ich dachte, dass der erhobene Arm eher ablenkt davon, dass Musk Teil der faschistischen Internationale ist. Es sind in der Tat seltsame Zeiten.
Erneuter Nachtrag zur elektronischen Patientenakte: Der Bundesverband der Psychotherapeuten warnt aus offensichtlichen Gründen “zum derzeitigen Zeitpunkt” vor der Nutzung der ePa. Ich glaube, so langsam fehlt nur noch die Vereinigung der Sportmediziner*innen. Die Gematik hat wirklich großes geleistet, was die Zerstörung des Vertrauens in digitale Lösungen angeht. Zu allem Überfluss hat es mindestens einen erfolgreichen Hackerangriff auf das “Trust-Center” der Bundesdruckerei gegeben, laut Auskunft des CCC von einem White Hat Hacker (also einer von den guten, die Betroffene über Sicherheitslücken informieren).
Das Trustcenter, oder auch D-Trust, sichert die Zugriffe auf die ePA. und zwar so gut, dass der CCC mit einer mE durchaus angemessenen Schnippigkeit darauf hinweist, dass es im engeren Sinne gar kein Hack war, da die Daten völlig ungesichert offen abrufbar waren und nicht einmal ein Passwortschutz oder dergleichen umgangen werden musste.
KI-Radar: Nachrichten aus der goldenen Zukunft, in der Maschinen Kunst für Maschinen machen, während Menschen den Abwasch und die Einkäufe erledigen.
DeepSeek, der Schrecken der US-Techgiganten: Was soll ich obskure Techblogs verlinken, wenn es selbst die Tagesschau bemerkt. Ein chinesisches Startup hat laut diversen Berichten mit einem Bruchteil des Geldes der us-amerikanischen Konkurrenz ein Open-Source-LLM (large language modell - der Name der statistischen Anwendungen, die dann zB ChatGPT von OpenAI zum Ergebnis haben) so ein Quatschprogramm erzeugt, das dazu auch noch leistungsfähiger sein soll.
Das ist auch deshalb ein bisschen lustig, weil einer der größten Nutznießer dieses, wie des vorhergehenden Crypto-Betrugs, Nvidia, gleich mal ein Drittel seines Börsenwerts verloren hat. Die Firma stellt Grafikkarten her und die Prozessoren dieser Karten sind für die (sehr energieintensiven) Operationen besonders geeignet. So ist Nvidia für diesen ganzen Quark ein zentraler Player geworden.
Man hatte sich dort bestimmt über die Ankündigung der angeblichen 500-Milliarden-Investition in KI durch Trump gefreut. “Stargate”, ich lach mich kaputt. Ein paar andere Konzerne (huhu, Microsoft), die in letzter Zeit besonders auf ihre KI-Kompetenz verwiesen haben, zieht es auch mit runter. Naja, wie gewonnen…
Soweit nicht anders vermerkt, unterliegen alle Texte und Bilder von mir der CC-Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0 Deed (Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen)