19 // blaue flammen
Zur Oper gekommen bin ich mit knapp 30 Jahren. Es war nicht das Interesse am Musiktheater, was mich dahin brachte, sondern Geld. Als Aushilfe in der Bühnentechnik, als Kulissenschieber also, hatte ich dann über ein paar Jahre Gelegenheit, mich bezahlt durch den Kanon zu hören und an vorderster Front die These bestätigt zu sehen, dass es sich bei der Oper um eine erstarrte Kunstform handelt, die zwar eine lange Vergangenheit, aber wohl kaum eine nennenswerte Zukunft haben könnte.
Die Staatsoper in Berlin gab (gibt?) sich aber auch wirklich kaum Mühe, irgendwie innovativ aufzufallen. Die hauseigenen Inszenierungen, die ich so sah, waren alle sehr konventionell, sehr gefällig noch dazu. Das war schon die passende Begleitung während nebenan das Kommandantenhaus von Bertelsmann mit pseudo-historischer Fassade hingeklotzt wurde, so wie später das unsägliche Stadtschloss. Diese ganze Guido-Knopp-Architektur fand seine Entsprechung in den bombastischen Bühnenbildern. Die beiden spannendsten Inszenierungen die ich dort sah, waren dementsprechend Gastspiele, eines von Sasha Waltz, eines von Robert Wilson.
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Und doch ist da etwas passiert mit mir. Des großen Luxus’, so oft die Staatskapelle hören zu können, war ich mir von Anfang bewusst. Auch wenn ich nichts in Bühnennähe zu tun hatte, nutze ich deshalb Vorstellungsschichten, um möglichst die ganzen Opern zu hören, statt im Casino zu versumpfen.
Hyperpopulär war zu der Zeit die Zauberflöte in der Everding-Inszenierung mit dem „Orginal“-Schinkel-Bühnenbild. Das ist das mit dem legendären Sternenhimmel, vor dem die Königin der Nacht singt. Ich weiß nicht mehr, wer in meiner Zeit dort die Königin gegeben hat, aber das war die Sängerin, deren Stimme einmal durch mich hindurchgefahren ist und die sich wie eine eiskalte Hand um meine Wirbelsäule legte. Da ergreift mich noch immer ein Schauer, wenn ich dran denke. Ich habe der Hölle Rache so oft in ihrem Herzen nicht einfach nur kochen gehört, sondern auch gespürt – nicht schlecht für eine erstarrte Kunstform.
Jahrelang habe ich nach einer Aufnahme gesucht, die auch nur einigermaßen nahe an diese Erfahrung ran kam. Nach vielen nicht überzeugenden Versuchen schien mir letztlich eine Einspielung von Diana Damrau ein hinreichender Näherungswert zu sein. Es ist eben doch etwas anderes, ob man am Bühnenrand, wenige Meter von der Diva entfernt von ihrer Aura eingefangen wird oder die Sache aus der Konserve kommt. Da geht halt immer etwas verloren, dachte ich. Dafür kommt bei Damrau übrigens immer noch mächtig was rüber.
Vor ein paar Tagen, es war so ein Rabbit-hole-Moment, in dem man kurz davor ist, dass gesamte Weltwissen via Wikipedia zu inhalieren, las ich den Eintrag zur zweiten Arie der Königin der Nacht. Dort wird unter Trivia erwähnt, dass das Stück eines der Tondokumente sei, die mit den Voyager-Sonden über die Grenzen des Sonnensystems ausgesandt wurden. Und zwar in einer Aufnahme von Edda Moser mit dem Orchester der bayerischen Staatsoper.
Kann man sich ja mal anhören, dachte ich.
„Der Hölle Rache kocht in meinem Herzen“ – Moser packt nicht einfach nur mit der eiskalten Hand zu, nein, ein druckvolles blau-züngelndes Feuer verzehrt alles in ihrer Reichweite. „Tod und Verzweiflung flammet um mich her!“ Was da aus den Lautsprechern kommt, ist genau das. Tod, Verzweiflung, Flammen. Schon beim ersten Mal Hören dachte ich, dass sie allein mit furchtbarer Wut das Orchester vor sich hertreibt und fragte mich, was eigentlich der Dirigent von Beruf ist. „Verstoßen sei auf ewig“.
Ja, und dann liest man zur Entstehung der Aufnahme, dass Edda Moser 1972 bei Ankunft in München erfuhr, dass die Frau des Dirigenten Sawallisch (aus welchen Gründen auch immer) veruchte, sie aus der Produktion zu drängen. Der Produzent setzte sich in Mosers Interesse durch und Sawallisch ließ ihr dann im Studio die Wahl, welche Arie zuerst eingespielt werden solle. Sie wählte Nummer zwei. One-take-Aufnahme. In der Tat Stoff für die Sterne.
Berühren und berührt werden können. Wut scheint eine recht nachdrückliche kreative Kraft in Bewegung zu setzen, denke ich immer öfter. Zumindest dann, wenn sie wie ein Laserstrahl gebündelt jeden Panzer durchbrennt. Ich jedenfalls spreche da sehr gut drauf an.
Aktueller Text: Für die taz auf Zuckerbergs MAGA-Turn geschaut. Zu dem Ergebnis gekommen, dass er tatsächlich viel mehr er selbst ist, wenn er keine Rücksichten mehr nehmen muss. Davon abgesehen denke ich, dass es besonders wichtig ist, nicht bei individuellen Beschreibungen und Erklärungsversuchen stehenzubleiben, sondern immer darauf zu zielen, die politische Rolle dieser Tech-Milliardäre zu beschreiben.
Das ganze toxische Kasperletheater fügt sich ja gut ein in den weltweiten Rechtsschub, der wiederum dem Klassenkampf von oben seinen idealen ideologischen Partner schenkt. 5.000 Zeichen sind vielleicht ein bisschen knapp dafür. Andererseits bin ich auch nicht sehr fleißig und deshalb nicht undankbar für die gemäßigten Formatlängen bei taz2.
Mit großem Interesse gelesen: IP-Adressierung ist eine grundlegende und spannende Angelegenheit für Netzwerktechnik. Und leider auch ziemlich kompliziert. Ich habe zum Beispiel noch nie so recht verstanden, warum sich IPv6 nicht einfach durchsetzt, obwohl doch der verfügbare Adressraum im Vorgängersystem IPv4 inzwischen schon seit mehreren Jahren aufgebracht ist.
Nach dem Studium eines recht langen Beitrags des Chef-Wissenschaftlers der für den Asien-Pazifik-Raum zuständigen IP-Adressen-Registry, Geoff Huston, habe ich einiges dazugelernt. Sowohl technisch, als auch ökonomisch. In seinem Fazit konstatiert Huston, dass “we are witnessing an industry that is no longer using technical innovation, openness and diversification as its primary means of expansion”.
Er diagnositiziert eine dermaßen hohe Marktkonzentration, dass niemand relevantes Interesse an einer Änderung der Marktbedingungen haben kann, solange es technische Möglichkeiten gibt, die Sache einigermaßen funktionsfähig zu halten. Und noch funktioniert es. Das Preisniveau für öffentliche IPv4-Adressen ist im Moment auch relativ stabil nach einigen heftigen Schwankungen, die einerseits die Verknappung der Adressen, andererseits ihre absehbare Nutzlosigkeit antizipierten. Jetzt wartet der Markt halt ab. Mal sehen, wie lange noch.
Zweiter Nachtrag zur ePA: Laut Ärzteblatt raten inzwischen auch Bundesärztekammer und der Berufsverband der Kinder- und Jugendärztinnen und -ärzte zum Widerspruch. Sag ich doch!
KI-Radar: Nachrichten aus den letzten Tagen der Menschheit, bevor die Maschinen alle Spuren humanoider Wut aus dem Internet gelöscht haben.
Apple says it will update AI feature after inaccurate news alerts: Nachdem Apple also Falschnachrichten in News-Zusammenfassung schickte und damit die BBC aus der reserve lockte, wird nun Besserung gelobt. Nein, der Service nicht verbessert, und schon gar nicht abgeschaltet. Nein, es soll in Zukunft einen Hinweis geben, wenn die Schnipsel maschinengeneriert sind.
Zuckerberg approved Meta’s use of ‘pirated’ books to train AI models, authors claim: Die KI von Facebook hat nicht nur einfach so Daten fürs Training gestohlen, nein, sie hat selber schon piratisierte Daten benutzt. Und zwar Libgen, die mutmaßlich größte Schattenbibliothek im Internet. Deshalb klagen ein ganz paar namhafte Autor*innen gegen die Mutterfirma Meta. Ein Kollateralschaden in der Angelegenheit könnte der Zugang zu Libgen sein. Zumindest innerhalb der EU ist der zu so einigen Spiegelseiten nicht mehr offen. Und weltweit scheint “jemand” grad an den einschlägigen DNS-Einträgen rumzuschrauben, weshalb man auch mit VPN schon ein bisschen suchen muss, welche Zugänge da grad noch funktionieren.
How OpenAI’s bot crushed this seven-person company’s website ‘like a DDoS attack’: Auch eine schöne Geschichte darüber, was passiert, wenn man von KI-Löffeln beklaut wird. Dann kann es nämlich passieren, dass deren Bots die Seite, die sie auszulesen versuchen, komplett lahmlegen. Im konkreten Fall konnte auf diese Weise eine E-Commerce-Seite tagelang nichts verkaufen und bekam zusätzlich noch eine Extra-Rechnung vom Hoster wegen des hohen Traffics.
Pro-Russian disinformation makes its Bluesky debut: Aber KI ist nicht nur dysfunktional. Neben Deepfakes, die in Telefonaten oder Videos helfen, Identitäten bestimmter Gesprächspartner*innen vorzutäuschen, eignet sich die Technologie auch hervorragend zur schnellen Verbreitung von Desinformation und Propaganda. Der Twitter-Nachfolger Bluesky (Nachfolger deshalb, weil Bluesky enden wird wie Twitter. Ich reserviere hiermit schonmal die Namensrechte: “Y” und “X hoch 2”) ist nun Heimat der ersten als solche identifizierten Putin-Bots. Glückwunsch dazu.
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