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Bohnen und Zucchini sind langsam abgeerntet, die letzten Tomaten trödeln dem ersten Frost entgegen, auch wenn man beim derzeitigen Thermometerstand daran noch gar nicht denken mag. Aber bald wirds dunkel und kalt. Dann verlagert sich das Leben wieder nach drinnen. Mehr Zeit zum Schreiben. Alles irgendwie neu. September, der Mai des kleinen Mannes.
Nach längerer, mit nur wenigen Texten überbrückter Pause wird es für die kommenden zwölf Monate wieder regelmässiger was von mir in der taz geben. Eine Kolumne bei taz2, mit dem Titel “Autokorrektor”. Gedruckt auf der Medienseite (ich weiß nicht so recht, wie das passiert konnte).
Ich freue mich jedenfalls über diese Herausforderung und habe mir fest vorgenommen, nicht der allgemeinen Untergangslust zu verfallen, sondern das Ermutigende im Auge zu behalten und mitzuteilen. Für Chaos und Apokalypse hingegen wenden Sie sich gerne an die Nachrichtenseite Ihres Vertrauens. Nachfolgend eine annotierte Version der ersten Kolumne.
Weiterlesen im Blog.
Autokorrektor 1 - Willst du mein Jelly Baby sein?
Facebook behauptet, dass ich mit lauter Leuten befreundet bin, die bloß sich selber, Wagenknecht oder auch gleich die Hamas promoten. Es ist die langweiligste Zombieapokalypse der Welt. Warum ich den verwaisten Account nicht lösche? Ich rede mir ein, um alle Jubeljahre nachschauen zu können, ob nicht jemand aus der Schulzeit versucht, Kontakt aufzunehmen. Eine Einladung zum Klassentreffen kommt derweil ganz gediegen per Mail. 1 Also auf nach Rostock, 30 Jahre danach.
Wir treffen uns nicht zwischen den Hochhäusern, wo wir zur Schule gegangen sind, sondern auf einem Restaurantschiff im Stadthafen. Alle sind außerordentlich liebenswürdig und erklären sich geduldig gegenseitig, wer sie sind. Ob noch ganz frisch oder nahezu untot: Fast alle sind gekommen. Von tatsächlich Verstorbenen mal abgesehen. Prost Nils!
Jelly Baby ist leider ebenfalls nicht da.
So einen wie Jelly Baby kennen Sie bestimmt auch. Auf den ersten Blick einer von den coolen Lehrern. Auf den zweiten Blick nur ein selbstverliebter Hallodri. Aber wer schaut schon zwei Mal hin mit zarten 16 Jahren. Und so merkte man (also ich) erst spät, dass Jelly Baby sich einfach nur gern von Schutzbefohlenen anhimmeln ließ (nein, nicht was Sie denken, pfui! aber auf ne ganz eigene Art auch recht jämmerlich). Und dem wollte ich doch einmal danken für eine wichtige Lektion in meinem Leben.
Es war ja keine schöne Zeit, Anfang der 90er Jahre in der Ostdeutschen Platte. Man hat davon gehört, nicht wahr. Baseballschlägerjahre, pipapo. Die Angriffe der Faschos auf Jugendliche, die ihnen nicht in den Kram passten, wurden damals auch von Lehrer*innen gerne als „normale“ Schulhofkabbelei abgetan. Wie überhaupt die Gewalterfahrung einer ganzen Generation lange Zeit einfach übergangen wurde. 2 Wir sehen, nichts wurde je auf Facebook oder Twitler erfunden. Nicht einmal Gaslighting.
Unbehelligt also suchten die Nazibanden sich ihre Opfer aus und schlugen zu. In den Hinterhöfen, in der S-Bahn oder eben vor der Schule. Mit einer Ausnahme, jenem Tag nämlich, als Jelly Baby Hofaufsicht hatte, entschlossen dazwischen ging und einen seiner Schüler in Sicherheit brachte. Ich weiß nicht, ob er an dem Tag ein Leben rettete, meinen Glauben an die Kraft der richtigen Entscheidung aber schon. In meiner Erinnerung 3 war das schließlich das einzige Mal, dass ein Erwachsener sich nicht abgewendet, sondern eingegriffen hat. Es sind in dieser Zeit überhaupt verdammt wenige vermeintliche Respekts- und Autoritätspersonen ihrer Verantwortung nachgekommen.
Ich frage mich gelegentlich, was geworden wäre, hätte es unter ihnen mehr Jelly Babys gegeben. Öfter denke ich darüber nach - und das ist die Lektion - wie es wohl sein wird, wenn heute vielleicht mehr so sind wie er an jenem Tag. Von den Facebook-Zombies die sogar zu träge sind, um auf TikTok umzulernen, ist das eventuell ein bisschen viel verlangt. Aber fragen kann man sie ja trotzdem sie mal: „Wollt ihr meine Jelly Babys sein?“. Das wäre nach Jahren der Funkstille dort doch mal ein ganz okayenes Lebenszeichen.
1 Die Mail kam lustigerweise über die taz
2 Wirklich interessant fand ich, wie selbstverständlich die Auseinandersetzungen jener Tage mit einigen der alten Mitschüler*innen gleich Thema war und wie das mit anderen genauso selbstverständlich nicht der Fall war. Ich bin da ambivalent, denn sicher ist es ein besseres Zeichen, wenn nicht unbedingt gleich Nazis das Thema bei so einem Treffen sind. Andererseits ist es aber vielleicht nicht immer gar so ergiebig, sich nur über die ausgedünnte Haartracht und die fast erwachsenen Kinder auszutauschen. Dann wiederum ist es aber auch schon ohne Exhumierung vergrabener Traumata ein hinreichend krasser Flash, geballt Menschen nach Jahrzehnten wiederzubegegnen. Da reicht die Zeit ja kaum für einen groben Abgleich der Biografien oder überhaupt für mehr als ein ausgedehnteres Hallo.
3 Tja, Erinnerung. Für nichts kann man sich verbürgen, aber in dieser Sache bin ich mir ziemlich sicher. Die Alten waren zu sehr mit sich selber zu beschäftigt, um was zu bemerken, oder hatten selber Angst. Oder waren offene Komplizen und Claqueure des rassistischen und faschistischen Mobs.
Sehen wir uns?
Tag der Mahnung und Erinnerung - Programm des VVN-BdA am 8. September in Berlin.
Aktueller Text in der taz: Am vergangenen Wochende anlässlich der Festnahme von Telegram-Gründer Durow nochmal was nachgelegt zu den ganzen Auseinandersetzungen zwischen den digitalen Plattformen und Behörden, zwischen ökonomischer und politischer Macht. Tatsächlich finde ich es ganz interessant zu beobachten, wie die Aushandlungsprozesse da ablaufen, wie Interessen sich treffen und voneinander entfernen. Die ganze Dynamik ist volatiler, die Kräfteverhältnisse undurchsichtiger, als man es bisweilen denken mag.
Mit großem Interesse gelesen:
Den besten Kommentar zur Rückkehr von Oasis hat Stewart Lee im Guardian geschrieben, Obwohl, ich will ehrlich sein, hab keinen anderen gelesen. Wozu auch. Nur um das ganze Gewäsch der Feuilleton-Boys mitzunehmen, die immer ganz fasziniert von der Authentizität der working class oder dessen, was sie dafür halten, sind. Das sind die selben, die jetzt ganz überrascht sind, dass JD Vance tatsächlich rechtsradikal ist, wo er doch mit seinem Buch damals so einen klugen Einblick in die Lebenswelt der niederen Klassen gegeben hat. Nein, ich bleib bei Stewart Lee, der seine Menschenliebe hinter einer snobistischen Fassade verbirgt, trotz fortschreitenden Alters nicht so tut, als sei seine Lebenserfahrung das Maß aller Dinge, der dazu nicht nur ein brillianter Comedian, sondern ebenfalls ein ganz ausgezeichneter Musikjournalist ist.
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