0 // Spaziergang zwischen gestern und morgen
Mit P. über diese eigenartige Romantisierung des Begriffs Manufaktur ausgetauscht. Beim Spaziergang durch Neukölln waren wir an der Blutwurst-M. vorbeigekommen die mein Unbehagen gleich doppelt verkörpert. Sicher, Leute die Blutwurst mögen, schwören auf diesen Hersteller, mir aber sagt das überhaupt nicht zu. Das ist schon so seit meiner ersten Bekanntschaft mit dem rotgrauen Brei in der DDR-Schulspeisung. Verkehrsunfall war noch einer der freundlicheren Namen für die widerliche Hämoglobingrütze.
Im Unterricht hatte ich derweil gelernt, dass die Manufaktur der durchaus kritisch zu bewertende Anfang der Industrialisierung war. Durch die zunehmende Ausdifferenzierung der einzelnen Arbeitsschritte im Produktionsprozess war das eine wichtige Triebkraft in der Entfremdung der Produzent*innen von den Produkten ihrer Arbeit und eine Vorbedingung der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse. Statt Blut, Schweiß und Tränen scheint die Manufaktur heute aber eine puppenstubenhafte Heile-Welt-Assoziation zu wecken, die sich ganz wunderbar zur Vermarktung dieser ganzen Fake-Landhaus-Ramschigkeit eignet. Echtholzmöbel von Zwangsarbeitern aus sibirischen Urwäldern geschlagen und am Ende dann doch ganz schnöde industriell verarbeitet, mit Blutwurst verschmiert gewissermaßen. Aber ich schweife ab.
Es soll ja um Spaziergänge gehen.
Ein Spaziergang durch den Treptower Park, hin zur Spree. Am Rosengarten Familien mit Kindern, die im Springbrunnen planschen. Je näher der Fluß kommt, umso voller wird es. Frisbees fliegen, Sonnenbäder werden genommen, ein Hauch von Strand, wenn auch ohne Badestelle. Dort, ein Paar mit echten Weingläsern. Bestimmt Grauburgunder. Alle sehen so glücklich aus. Über den Sommer bin ich zumeist im eignen Garten und nicht hier. So überrascht es mich dann doch immer wieder, wie viele Menschen es in den Park, an den Fluss zieht. War ja nicht mit zu rechnen…
Die Massen stören mich diesmal gar nicht. Die über Jahre fleißig gepflegte Misanthropie verfliegt in der Sonne, zerfließt am Wasser. Darauf ziehen Boote aller Größen ihre Runden. Obwohl, hier zwischen Stralau und Treptow bewegen sie sich recht gradlinig, streben einem Ziel zu, das mir verborgen bleibt. Am eigenartigsten sind die Stehpaddler*innen. Besonders die Solisten unter ihnen strahlen extreme Einsamkeit aus. Dabei weiß ich gar nicht zu sagen, was mir an deren Erscheinung so unglaublich disparat vorkommt.
Dabei geht es doch genau darum, dafür Worte zu finden. Für das Verborgene, das schwer zu Erklärende. Wozu sonst schreiben? Das Offensichtliche ist schon tausendfach gesagt. Ich habe keine Lust mehr. Ich will das nicht mehr lesen, ich will es auch nicht wiederholen. Deklamieren und Recht haben. Es sind beileibe genug Leitartikel geschrieben worden, vielleicht braucht es eher eine Umarmung. Eine Umarmung für die, die nicht von irgendeinem falschen Weg abgebracht werden müssen, sondern auf dem richtigen Weg angelegentlich verzweifeln.
Ein Gruß geht also hinaus an den einsamen Spaziergänger und ein Winken an die aufrechte Stehpaddlerin. Irgendwo die Spree entlang, gleich hinterm Plänterwald, ganz in der Nähe des Fährterminals Baumschulenstraße, fängt die Zukunft an. Ich warte dort auf euch.
Mehr lesen im Blog.
Aktueller Text in der taz: Anmerkungen zum miesen Monopolgebaren von Apple (und anderen Digitalkonzernen) anlässlich der künftigen Erhebung des 30-Prozent-Apple-Zolls auf alle Patreon-Spenden.
tldr: Is ne Scheißnummer, aber immerhin gibt es langsam wirksamere politische Versuche, da zumindest ein bisschen zu regulieren.
Mit großem Interesse gelesen:
Manja Präkels war schon eine herausragende Chronistin der Baseballschlägerjahre, als die noch gar nicht so einen griffigen Namen hatten. Vor allem gelingt es Präkels immer wieder, die Relevanz und Wirkung jener Zeit auf das Heute zu demonstrieren. Von der taz wird sie neben weiteren Kolleginnen in Vorbereitung der baldigen Ost-Landtagswahlen durchs Gemüse geschickt. Bislang sind zwei Texte zu lesen, einmal aus Rheinsberg und einmal aus Cottbus. Ich mag ihren telegrafischen Stil sehr, die Beobachtungen und Einsichten sind sowie außerordentlich instruktiv.
Sehen wir uns?
Tag der Mahnung und Erinnerung - Programm des VVN-BdA am 8. September in Berlin.
Soweit nicht anders vermerkt, unterliegen alle Texte und Bilder von mir der CC-Lizenz: CC BY-NC-SA 4.0 Deed (Namensnennung - Nicht-kommerziell - Weitergabe unter gleichen Bedingungen)