März-Ausgabe 2023
Herzlich Willkommen zur März-Ausgabe des Vreundschaftsbriefs!
CRUNCH
In unserer aktuellen Genderswapped-Podcastfolge reden wir über die neue Welle an Machine-Learning-Anwendungen, die Texte oder Bilder erstellen und was das für unsere Kunst, Arbeit und Medienkompetenz bedeutet.
Im Audio-Extra überlegen sich Lena und Judith je drei Dinge, die eine KI gern übernehmen dürfte und die nix mit Kunst zu tun haben.
Auf Patreon gibt es, drei Jahre nach dem ersten Lockdown und den Nachrichten von trotz Pandemie heimlich haareschneidenden Friseur*innen, “endlich” das Crewbook “Scissors in the Dark” für “Blades in the Dark”. Damit könnt ihr nun auch in Doskvol illegal agierende Barbier*innen und Frisierende spielen.
Lena war bei DiceCourse, dem supernetten Rollenspieltalk mit Tahina und Gabe, zu Gast und hat über progressives Storytelling im Rollenspiel geplaudert.
Bei Literatopia ist ein Interview mit Lena zu “Dies ist mein letztes Lied”, ihrem Schreibwerdegang, Queer*Welten und mehr erschienen. Auch eine Rezension der Novelle gibt es dort schon.
Judith und Christian haben zum ersten Mal ein Hörspiel geschrieben: Es ist gerade frisch angekündigt, heißt Die Vorboten und spielt im 90er-Jahre-Urban-Fantasy-Universum der TV-Serie “Der Greif”, die Ende Mai auf Amazon Prime startet. Ausführlicheres dazu gibts im nächsten Newsletter!
Termine
HeinzCon - am 11.3. um 17 Uhr lesen die Vögte auf der HeinzCon aus “Laylayland” - direkt danach liest James Sullivan aus “Die Chroniken von Beskadur”, und wir übernehmen jeweils Leseparts beieinander. (In diesem Jahr findet die HeinzCon nicht an der Nordsee statt, sondern im Bürgerzentrum Engelshof e.V., Oberstr. 96, 51149 Köln)
Am 31.03.2023 um 19:00 Uhr ist Lena bei Frag-den-Verlag im ohneohren-Discord dabei und beantwortet gerne Fragen zur Novelle oder anderen Dingen.
1. Kölner Fantasy-Festival - es dauert noch etwas, aber sei schon mal erwähnt: Im Mai findet vom 3.5-13.5. an wechselnden Orten in Köln ein großes Fantasy-Lesefestival statt! Wir lesen am 12. Mai zusammen mit Iva Moor, das ganze Programm findet ihr hier.
FLUFF
Kurz vor dem feministischen Kampftag am 8.3. wurde dem Feminismus in diesem Spiegel+-Artikel (hinter Paywall) eine Krise bescheinigt - der Grund? Die neue Alice Schwarzer ist nicht aufzutreiben, dabei wissen wir doch alle: Wenn Feminismus eins braucht, dann eine Anführerin! Hiermit möchten wir uns also auf den Posten bewerben - unter dem Screenshot findet ihr unsere Bewerbungen!
(Bildbeschreibung: Ein Screenshot der Spiegel-Website, auf der der Leitartikel von Melanie Amann beworben wird. Die Vorschau lautet: “Wo ist die neue Alice Schwarzer? Neuerdings sind alle für die Frauen. Der Feminismus scheint in Deutschland eine Blütezeit zu erleben. Tatsächlich fehlt es der Bewegung an konkreten Konzepten, ambitionierten Zielen - und streitbaren Köpfen.”)
Judith: Wählt mich! Zwar habe ich aktuell keine bunten Haare, aber auch ohne werde ich mein Bestes geben, um Männerrechtler zu schaumigen Rants über diese modernen (bei Bedarf grünhaarigen) nichtbinären Feminist*innen zu motivieren. Ich bin die perfekte Anführer*in eines modernen Feminismus - ich werde weiblich genug gelesen, damit mich alle zukünftigen Leitartikel wahlweise “starke Frau”, “selbstbewusste dreifache Mutter” oder auch “streitbare Autorin” nennen und meine Kleidungswahl statt meiner Themen kritisieren können, nutze aber parallel zu meinen quasi in die Wiege gelegten “sie”-Pronomen auch noch “they” und Sternchen in der Berufsbezeichnung, damit dann von jedem Wochenblättchen Deutschlands einmal in Frage gestellt werden kann, ob das überhaupt eine Existenzberechtigung in der deutschen Sprache hat - wie aufregend! Ich verstehe nicht nur den neuen, jugendlichen “Trend” von trans und nichtbinären Identitäten, sondern gehöre dem Kult an, stehe der Gender-Lobby vor, betreibe allerlei Gaga in Reinform. Ich kann jedem Meinungsblatt noch mal ganz genau erklären, warum auch nichtbinäre Menschen bei feministischen Kämpfen mitmachen dürfen, und nichts gefällt mir besser, als dabei jedes Mal bei Null, also auf Urschlammniveau, anzufangen!
Lena: Bei aller Liebe für bunte Haare und Gendersternchen - ihr solltet lieber mich wählen! Denn ich konnte in 15 Jahren Front Office-Lohnarbeit ein sanftes, aber bestimmtes Arbeiten perfektionieren, dass auf die Egos wichtiger Leute Rücksicht nimmt und sie behutsam in die richtige Richtung schubst. Warum auch immer so streitbar? Wir kommen doch einfach weiter, wenn wir die Leute da abholen, wo sie stehen, ganz nett und einfühlsam - und das liegt mir als Frau natürlich sowieso. Sanfte und verständnisvolle Care-Arbeit am deutschen Feminismus statt Wut und Geschrei: Das wird uns nach vorne bringen, und es wundert mich, wieso in hunderten von Jahren noch NIEMAND auf die Idee gekommen ist, es einfach mal damit zu versuchen! Also wählt mich für diesen freshen neuen Ansatz!
Christian: Das Modell “Mann in Führungsposition” ist längst nicht ausgelaufen. Setzt auf den Klassiker und wählt mich! Jahrtausende beharren wir nun schon auf diesem Konzept und seht, wohin es uns gebracht hat! Keine Experimente! Als einziger Mann in diesem Newsletter ist meine Wahl alternativlos - alles andere wäre doch unfair. Und seien wir realistisch: Judith und Lena schreiben hier viel mehr als ich. Wollen wir wirklich auf gute Arbeit verzichten, wenn wir sie jetzt mit einer Führungsposition belasten? Ihr kennt das sicher von euren Chef*innen: Es ist tragisch, wenn man eine gute Fachkraft verliert, die dann rummanagen soll. Nehmt lieber jemanden, der weniger leistet - das sind die naheliegenden Führungspersönlichkeiten!
(Lena:) Okay, aber nun mal ernsthaft:
Der Artikel - wir haben ihn in seiner ganzen Länge gelesen - käut die Idee davon wieder, dass der Feminismus sich verrannt habe und mit zu viel Klein-Klein beschäftigt (natürlich sind die unwichtigen Dinge mal wieder die Rechte von trans Personen und gendergerechte Sprache - wie “überraschend”). Und auch wenn dieser konkrete Artikel in seiner Albernheit kaum ernstzunehmen ist, taucht die Idee der “starken Anführerin” immer wieder in solchen Debatten auf.
Wann genau kommen wir als Gesellschaft mal weg von dieser destruktiven Idee, dass jede soziale Bewegung eine Führungspersönlichkeit braucht, die ihr Heiland-gleich vorsteht und für den Erfolg der Sache unabdingbar ist? Und die man dann persönlich vergöttern, verdammen, anhimmeln und kritisieren kann, um sich bloß nicht mit den eigentlichen Inhalten befassen zu müssen? Wir sollten uns darüber klar sein, dass den Bewahrenden des Status Quo eigentlich gar nichts besseres passieren kann als eine Bewegung, die sich hinter einer Einzelperson versammelt. Diese kann man attackieren, schlecht reden, lächerlich machen (wie es z. B. seit Jahren mit Greta Thunberg versucht wird) und im besten Falle gibt sie auf und die Bewegung gleich mit ihr. Wenn da aber nicht eine Person steht, sondern 10 oder 100 oder 1000, die ähnliche Ziele und Ideen haben, ähnliche Kämpfe ausfechten, dann lastet keine übermenschliche Erwartung auf einer Einzelperson und wenn jemand aufgeben muss oder - wie eben Alice Schwarzer - für die Bewegung nicht mehr tragbar ist, geht es trotzdem weiter. Irgendwann vor Jahren habe ich auf Twitter mal sinngemäß geschrieben: “Wir marginalisierten Personen überstehen unsere Kämpfe, weil wir uns abwechseln.” Und genauso sollte es sein. Aktivismus, der fordert, dass seine Kämpfer*innen ausbrennen, ist kein guter Aktivismus.
Und von diesem Aspekt abgesehen: Während seit Jahren davon geredet wird, dass Feminismus intersektional gedacht werden muss, scheint nicht anzukommen, dass das eben auch heißt, möglichst viele Perspektiven, Identitäten und Lebenserfahrungen einzubeziehen, die eben nicht eine einzelne Person überhaupt in sich vereinen kann. Wir sollten also froh darüber sein, dass es nicht “den deutschen Feminismus” gibt, sondern dass der Feminismus so viele Facetten und Aspekte hat. Und dass an so vielen Stellen gekämpft und gedacht und geforscht und gefordert und gearbeitet wird. Ich weiß ja nicht, wo Melanie Amann ihre Feminismus-Infos bezieht, aber ich kann ohne nachzuschauen mehrere Handvoll von feministischen Aktivist*innen aufzählen, die an verschiedensten Aspekten des Patriarchats sägen. Sei es die (im Artikel immerhin erwähnte) Theresa Bücker mit ihren Forderungen zu Equal Care und Arbeitszeit, Laura Sophie Dornheim, die gerade ein Buch über Schwangerschaftsabbruch veröffentlicht hat, Tanja Kollodzieyski, die online seit Jahren über Ableismus und die Lage behinderter Frauen aufklärt, Felicia Ewert, die zu trans Rechten schreibt und podcastet, Gilda Sahebi, die unermüdlich über die Aufstände im Iran berichtet, Ravna Marin Siever, dier ein Buch zu geschlechtsoffener Erziehung veröffentlicht hat, Sookee, die intersektional-feministisch rappt, Asha Hedayati und Christina Clemm, die quasi täglich über patriarchale Gewalt im Justizsystem berichten, Nicole Seifert, die weiter in der Literatur die Verlagsprogramme nach Gender Equality durchleuchtet, Sharon Dodua Otoo, die auch mit feministischem Blickwinkel Schwarzen Autor*innen eine Bühne bereitet … ich könnte noch ewig weitermachen. Ich sehe da jedenfalls jede Menge konkrete Konzepte und ambitionierte Ziele. Und ganz viele wunderbare Personen und Gruppierungen, die den deutschsprachigen Feminismus ausmachen - strahlende Anführer*innen unnötig.
Vavoriten:
Judith empfiehlt:
Ich bin Le-Guin-Fan, kenne aber Erdsee eigentlich nicht. Irgendwie habe ich mich immer in der Annahme, es sei halt doch eher so Standard-Fantasy, darum herumgedrückt und lediglich den Ghibli-Film geschaut sowie das letzte Erdsee-Buch “Tehanu” gelesen. Der WDR hat im vergangenen Jahr allerdings ein aufwändiges, sechsteiliges 3D-Hörspiel produziert, und das hat dann wieder den “Irgendwann muss ich mal Erdsee lesen”-Wunsch geweckt. Erst mal habe ich es jetzt allerdings gehört - das Hörspiel umfasst die ersten drei Bücher “Der Magier von Erdsee”, “Die Gräber von Atuan” und “Das Ferne Ufer”, entspinnt sich jedoch immer in Gesprächen zwischen dem Magier Sperber und der einst in Atuan als Hohepriesterin dienenden Tenar und erzählt die Romane anekdotisch als am Feuer erzählte Geschichte. Dreidimensional ist das Hörspiel nicht nur wegen seiner Figurenzeichnung, sondern weil es - mit Kopfhörern gehört - einen Raumklang entfaltet, den man wohl mit einer (von mir nicht ausprobierten) Headtracking-App noch intensivieren kann. Die Art, wie die beiden Hauptfiguren erzählen, ist intensiv und gleichzeitig total schön und entspannend, die Musik und die Klangwelt eröffnen eine Stimmung, die ich nur als “therapeutische Sword&Sorcery” beschreiben kann. (Ja, das ist in meinem Kopf ein eigenes Genre, Jenny-Mai Nuyens “Die Töchter von Ilian” und Samuel R. Delanys “Return to Nevèrÿon” gehören auch dazu.)
Der letzte Magier von Juri Pavlovic ist der zweite Teil der Frost-Chroniken über den gleichnamigen Krötenzauberer, Frauenheld und Chauvi Yuriko (plus viele Zweitnamen) Frost. Das Kunststück, diesen sehr speziellen Protagonisten gleichzeitig ironisch und empathisch zu schildern, hat mich im ersten Band schon sehr begeistert, und da schließt sich der zweite Teil nahtlos an. Yuriko ist mit seinem besten Freund aus Kindertagen aus dem deprimierendsten Gefängnis der Welt ausgebrochen und auf der Flucht. Die beiden Mittfünfziger müssen sich ins Nachbarland durchschlagen, damit sie dort eines anderen Verbrechens beklagt und vielleicht freigesprochen werden können. Pavlovic nimmt die Freundschaft der beiden sehr unterschiedlichen Männer unter die Lupe, wie sie einander lieben und nerven, manipulieren und überreden, nicht verstehen und schließlich doch verstehen - und dabei gelingt ein Loblied auf freundschaftliche Liebesbande über Unterschiedlichkeiten hinweg.
Begin the World Over von Kung Li Sun ist klassischer Alternate History: Die Revolution verschleppter und versklavter Schwarzer Menschen breitet sich von Haiti über die Karibik bis aufs nordamerikanische Festland aus, wo sie Unterstützung durch Native Americans erhält. Als unaufhaltsame utopische und empowernd queere BI_PoC-Allianz wird sie den Lauf der Geschichte ändern - und das meiste davon erfahren wir aus der Sicht eines in Frankreich ausgebildeten Schwarzen Gourmet-Kochs im Besitz von Thomas Jefferson, der eigentlich wenig Revolution im Sinn führt, jedoch vom attraktiven Denmark auf ein chinesisches Pirat*innenschiff shanghait wird. Von dort aus gelangt er nach Nuevo Orleans, erfindet dort das Gericht der Südstaatenküche, Gumbo, und feuert damit den Aufstand an, der gutes Essen zu schätzen weiß. Der Roman verzichtet darauf, sich allzu sehr in Grausamkeiten zu ergehen und konzentriert sich auf das Hoffnungsvolle, Kraftvolle des Aufbruchs in die Was-wäre-wenn-Utopie und die Quirks der facettenreich-queeren Hauptfiguren.
Christian empfiehlt:
Die Stadt aus Messing von S. A. Chakraborty: Im 18. Jahrhundert beschwört die Diebin Nahri in Kairo bei einem Ritual, das sie für Aberglauben hält, versehentlich einen Dschinn und befindet sich kurz darauf mit ihm auf der Flucht nach Daevabad, der Hauptstadt eines verborgenen Dschinnenreichs. Arabische Fantasy voller Magie, Politik und Palastintrigen. Die dreiteilige Reihe hat jede Menge Preise bekommen, aus unserer Bubble haben sie bislang aber nicht viele gelesen - ich bin froh, trotzdem darüber gestolpert zu sein.
Es geht endlich weiter mit Carnival Row - in der zweiten und letzten Staffel auf Amazon Prime. In einer Art pseudo-viktorianischem London geht es um den Kampf der Fae (ein Volk keltisch anmutender Feenwesen), die aus ihrer Heimat Tirnanoc vertrieben wurden, um Anerkennung und Überleben in der Welt der menschlichen Kolonialmächte. Eine Fantasy-Serie, die ausnahmsweise keine Buchverfilmung ist! Optisch ist sie sehr schön und stimmungsvoll geraten, und der Plot ist wirklich mitreißend. Die Art der Stadt-Steampunky-Social-Fantasy und die angesprochenen Konflikte erinnern mich auf eine angenehme Art an die Serie Arcane.
Lena empfiehlt:
Nachdem Judith in der Liste zu Progressiver Phantastik fürs Brecht-Haus so davon geschwärmt hat, habe ich Swantje Niemanns Das Buch der Augen gelesen und war genauso begeistert. Die Geschichte um die Studentin Renia, die nach dem Scheitern ihres Studiums zurück nach Berlin kommt und dort mit inneren wie äußeren Dämonen zu kämpfen hat, hat mich sehr beeindruckt und ich konnte das Buch kaum weglegen. Die Erzählstimme ist in ihrer zutiefst milennial-esken, sarkastisch-traurigen Weise total mein Ding gewesen, die psychischen Erkrankungen der Hauptfigur kommen eindringlich rüber, ohne dass es in Misery Porn abgleitet. (In jedem Fall aber CN für Depressionen und Anorexie für das Buch - aber es gibt ohnehin eine CN-Liste am Ende, sehr gut.) Und trotz Renias verschiedener Probleme und Erkrankungen geht es eben nie nur darum, sondern “Das Buch der Augen” hat einen soliden Urban-Fantasy-Plot, dessen Protagonistin eben gleichzeitig noch mit anderen Dingen kämpft. Genauso sollte es sein. Große Empfehlung auch von mir.
Ein Filmtipp: Ich hatte neulich Lust auf einen Musikfilm und stieß in der “Music and Musicals”-Kategorie von Netflix auf Ma Rainey’s Black Bottom, was mir erstmal überhaupt nichts sagte, aber Viola Davis und Chadwick Boseman (in seiner allerletzten Rolle) in den Hauptrollen waren Grund genug, mir den Film anzuschauen. Wie ich hinterher nachgelesen habe, handelt es sich um die Verfilmung eines Theaterstücks, das wiederum auf dem Leben der Schwarzen Blues-Sängerin Ma Rainey basiert, die in den 1920ern berühmt wurde. Wobei “Leben” jetzt vermutlich den falschen Eindruck vermittelt, denn der Film ist kein Biopic, sondern thematisiert nur eine einzige Tonstudioaufnahme, bei der unter anderem eben der Song “Black Bottom” aufgenommen wurde. Die Handlung findet an nur einem Nachmittag statt und spielt fast vollständig im Tonstudio. Die Hitze eines heißen Chicagoer Sommertags ist so glaubhaft vermittelt, man möchte sich fast selbst Luft zufächeln. Viola Davis als divenhafte Sängerin, die den beiden weißen Tonstudio-Menschen alle Zugeständnisse abringt, die sie ergattern kann, ist sehr gut gespielt und kaum wiederzuerkennen. Chadwick Boseman als junger Trompeter Levee ist auf doppelte Weise herzzerreißend: Nicht nur der Charakter selbst, der arrogant, egoistisch und gleichzeitig verletzlich und verträumt ist, sondern auch Boseman, dem man, wenn man es denn weiß, die schwere Krankheit deutlich ansieht und der sich wirklich die Seele aus dem Leib spielt. Der Film, so viel sei vielleicht gesagt, nimmt kein besonders glückliches Ende und thematisiert viele üble Dinge und auch (nicht gezeigt, aber erzählt) Gewalt und sexualisierte Gewalt gegen Schwarze Menschen. Dabei wirft er ein interessantes und gut erzähltes Schlaglicht auf Schwarze Musiker*innen in den 1920ern. Ich fand ihn auf jeden Fall sehr sehenswert.
Und zum Schluss noch ein Buch: Ich habe das erste Mal in meinem Erwachsenenleben ein Buch gelesen, das in einer Ferienwohnung rumstand, nämlich Leibhaftig von Christa Wolf. Die Autorin kenne ich natürlich und habe auch als Jugendliche schon zwei Bücher von ihr gelesen, also war ich neugierig. Leibhaftig ist ein Buch, das man am besten am Stück liest, ich jedenfalls konnte es, einmal neugierig aufgeschlagen, überhaupt nicht weglegen. Es ist eine durchgehende, stream-of-consciousness-artige Erzählung einer namenlos bleibenden Protagonistin, die in den letzten Monaten der zusammenbrechenden DDR wegen eines zu spät erkannten Blinddarmdurchbruchs im Krankenhaus liegt, wo Ärzt*innen und Pflegekräfte um ihr Leben kämpfen (im Übrigen eine echte Episode aus Wolfs Leben, die hier verarbeitet wird). In Fieberträumen denkt sie immer wieder an ihre Vergangenheit, unternimmt fiktive Ausflüge in die Kellerräume ihres Hauses, die sie zu Erinnerungen an ihre Familiengeschichte im Dritten Reich und Überlegungen über die Überwachung durch die Stasi animieren. Die körperlichen Torturen, der völlige Verlust von Zeitgefühl, Kontrolle über den eigenen Körper und die eigenen Gedanken, das Ausgeliefertsein - all das wird sehr eindringlich beschrieben und ich habe mich in Teilen davon, gerade dem völlig erratischen Verstreichen von Zeit, auch irgendwie gesehen gefühlt. Zu den Gedanken zum Kulturbetrieb in der DDR mit seinen Kontrollmechanismen und Klüngeleien fehlte mir ein wenig der Bezug, aber auch dieser Teil war interessant. Erschreckend ist jedenfalls die Schilderung der Mangelverwaltung im Krankenhaus: Immer fehlen Medikamente, Personal, Ausrüstung. Was im Buch mit dem Niedergang der DDR verknüpft wird, könnte so auch in jedem Bericht von heutigen Krankenhausangestellten stehen, was der Lektüre einen sehr bitteren aktuellen Anstrich gab.
Danke fürs Abonnieren und Lesen und bis zum nächsten Monat!
Judith, Christian und Lena