September-Ausgabe 2023
Herzlich Willkommen zur September-Ausgabe des Vreundschaftsbriefs!
CRUNCH
Im Genderswapped Podcast haben sich Lena und Judith diesmal ein Genre herausgesucht, an dem beide viel Spaß haben, nämlich Spionagegeschichten! Dazu berichtet Judith von ihrer Recherche zu antiker Spionage, Lena stellt das Buch "Die Unsichtbaren" vor und sie reden über Tropes, Gadgets, Drama und mehr. Im Medienthema gehts um die Serie "The Americans".
Zu dieser Folge gibt es auch ein Audio-Extra mit unseren liebsten Spionage-Tropes.
Auf Patreon gibt es in diesem Monat eine “deleted scene” aus dem Hörspiel “Der Greif: Die Vorboten”. Schauspieler Zoran Pingel alias Memo hatte keine Zeit, weshalb eine Szene im Plattenladen umgeschrieben werden musste.
Judith war in diesem Jahr Teil der GINCO-Jury. Auf der Connichi am 2.9. wurde der GINCO-Award verliehen - die ausgezeichneten Comics findet ihr hier!
Patricia Eckermann, James A. Sullivan und Judith gibts diesen Monat als Aufzeichnung im Doppelpack: Zum einen bei der Aufzeichnung vom Roundtable zur Tagung “Disruptive Imaginations” der Gesellschaft für Fantastikforschung in Dresden. Und zum anderen in einem langen Radio-Feature bei SWR2 mit Interviews, Beiträgen zur Fantasyszene in Deutschland und einer Kurzgeschichte, die wir zu dritt geschrieben haben und die ihr diesmal außerdem im Fluff-Teil findet - und auf Patreon!
Außerdem sind wir jetzt auf Bluesky angekommen und freuen uns, wenn wir uns dort sehen: @catrinity.bsky.social (Lena), @inksmith.bsky.social (Christian), @atalanteunderwood.bsky.social (Judith)
Termine:
1.10., Panel und Signierstunde auf der MagicCon: Die Vögte reden auf der Bühne mit Kathrin Dodenhoeft vom Piper-Verlag über historische Fantasy, danach gibts eine Signierstunde am Piper-Stand. Die genaue Uhrzeit wird noch bekanntgegeben.
FLUFF
Mosaik der Übergänge - die Kurzgeschichte für SWR2 von James, Patricia und Judith
Ajentje
Die Zukunft stand einfach so im alten Schuppen.
Ajentje hatte Mühe gehabt, die festgerostete Tür aufzustemmen. Durch gesprungene Oberlichter malte das Sonnenlicht Säulen in den Staub und auf die Geräte, die dort seit einem Jahrhundert schlummerten. Der Schuppen barg nichts als Vergangenheit, doch eine Vergangenheit, die in der Gegenwart nützlich sein würde: Ajentjes Gruppe, von der Presse „Vigilante 20“ genannt, hatte sich auf einer sehr ehemaligen sowjetischen Teeplantage niedergelassen. Seit dem Ende des Kalten Kriegs verwilderten hier Hänge voll von ungezähmtem Tee. Dass sie sich dieses Stück Utopie verdient hatten, in das sie die Assam-Plantage verwandeln würden, sagten sie einander. Aber etwas zu verdienen war nur menschengemachter Trost in einer Welt, die sich nicht darum scherte und nicht nach diesen Regeln spielte.
Ajentje jedoch musste weiter; angetrieben von der eigenen Bewegung zog Ajentje eine Segeltuchplane zurück. Darunter funkelte die Zukunft – Ajentjes Zukunft: ein Getriebe aus schimmerndem Chrom und Pflanzenfasern, ein Gehäuse aus polierter Bronze und Holz, Hebel aus gebürstetem Kupfer und Leder. Die Zukunft war ganz sauber geblieben, nur ein bisschen Mäusedreck auf der Milchglasklappe am Boden zeugte von der Zeit in diesem Schuppen.
Ins Holz waren Initialen geritzt; alte Liebschaften und wehmütige Abschiede. Ajentje fuhr mit dem Daumen darüber und klappte dann das Präzisions-Omnitool aus dem Zeigefinger, jenes kleine und hochkomplizierte Gerät, das ihnen den Zentralrechner geöffnet hatte. So viel hatten sie geben müssen – so viel bleibt auf der Strecke, wenn du versuchst, dich ins BIOS unserer Gegenwart zu hacken, um endlich die Frage zu beantworten, Grün auf Schwarz: DO YOU REALLY WANT TO DELETE CAPITALISM.SYS? Eine einzelne Person würde sich vielleicht fragen, was da sonst noch ist, schlimmer, ob da sonst noch was ist, bevor sie Y drückt – oder doch N? Doch die Vigilante 20 waren nicht ein einzelner Finger, der zwischen den Tasten schwanken konnte, sie waren zu diesem Zeitpunkt längst mehr als zwanzig gewesen, und sie alle hatten mehr geben müssen als da war, hatten stehlen, verraten, einbrechen, überzeugen, hinwerfen und wieder aufnehmen müssen – und zweifeln, immer wieder zweifeln, um das Angezweifelte schließlich Realität werden zu lassen. Die ganze Aktion ein perpetuum mobile aus persönlichen Opfern und vielen kleinen Entscheidungen – es existierte schließlich keine capitalism.sys tief im Herz der Gesellschaft.
Doch sie hatten dem Zentralrechner einen Code gefüttert, der alle Bytecoins in Töne verwandelte. Der Befehl war in alle Clouds hochgeladen worden, hatte einen Hurricane aus Musik geformt, den alle Datenbanken der Welt gespielt hatten. Und als dieser Liedersturm verklungen war, waren die Töne – einmal gehört und unwiederholbar – für immer fort.
Und mit ihnen alles Geld. Zu Klang gewordene Phantasie, eine Welt hinterlassend, die ihren Wert auf andere Weise finden musste. Und würde.
Ajentje ritzte mit dem diffizilen Omnitool die eigene Initiale ins Holz, setzte ohne das geringste Zittern einen perfekten Kreis drumherum.
Dann zündete Ajentje die Zukunft. Sie begann zu surren, stockte kurz wie Ajentjes Herzschlag, bevor Getrieberädchen ineinandergriffen, das ganze Gebilde schnurrte, und die milchgläserne Klappe am Boden sich mit prismatischem Licht erfüllte. Mit einem Schnappen öffnete sich die Verriegelung.
Ajentje spürte die Vibration unter den Füßen, spürte sie in den Knochen, den Adern.
Die Erleichterung, dass alles immer weitergehen würde, bis es es nicht mehr tat, ließ Ajentje die Falltür der eigenen Zukunft öffnen und hindurchsteigen.
Temke
Jede von Temkes Fasern wusste, dass sie das Bittere, das auf ihrer Zunge lag, ausspucken musste. Doch ihr Unbewusstes ahnte, dass sie sich nur befreien konnte, wenn sie die Pille schluckte. Anders würde sie diesen verdammten Ort niemals verlassen.
Nichts hier konnte sie einordnen. Konnte das Nichts überhaupt ein Ort sein?
Jenseits der farb- und formlosen Unendlichkeit war nur ein einzelner, riesiger Baum. Von dem sie, an den Füßen gefesselt, kopfüber mit Blick in eine bodenlose Tiefe hing.
Wenige Stunden zuvor hatte Temke noch gutgelaunt in ihrem Mietjet gesessen. Mit einem Glas Champagner in der Hand und der Aussicht auf drei Tage Party auf Ibiza. Oder besser: eine auf drei Tage verteilte grenzenlose Freiheit, in Saus und Braus, auf Pillen, die sie von jeglicher Verantwortung befreiten, die ihr der Job bei der Zeitung sonst 24/7 abverlangte.
Kurz nach dem Start hatte Temke die Stewardess um eine Thorazepam gebeten, damit sie wenigstens den Flug über etwas Ruhe finden konnte. Die letzten Tage im Büro waren ein hypercolorierter Alptraum gewesen: Die geleakten Infos möglichst weit herunterspielen, den korrupten Politiker aus dem Schussfeld nehmen, einer ahnungslosen Person die Schuld zuschieben – die Operation hatte ihrem inneren Machiavelli alles abverlangt. Doch ihr Team hatte „die Kuh vom Eis“ geschoben, den räudigen Politiker gerettet und die Chefetage zufriedengestellt.
Für Temke die Gelegenheit, endlich mal selbst auf all die Feier-Selfies zu kommen, die sie sonst nur von ihren Freundinnen zugeschickt bekam. Die drei Tage Party hatte sie mehr als verdient.
Es hätte Temke eine Warnung sein sollen, als die Stewardess ihr statt der Thorazepam eine Lokivex gab, mit der Mahnung, die Pille auf keinen Fall „mit dem Zeichen nach unten“ auf die Zunge zu legen. Welche Rolle spielte es, wie sie das verdammte Ding einnahm? In einem Trotzreflex legte sie die Pille absichtlich verkehrt herum auf ihre Zunge und schluckte.
Doch die Tablette blieb stecken, nahm Temke die Luft, ließ sie verzweifelt ihr Hermès-Tuch lösen, gegen den eigenen Kehlkopf schlagen, sich in Panik von ihrem Sessel werfen. Ohne Erfolg. Sie wälzte sich auf dem Boden, stieß mit dem Absatz ihres Designerschuhs ein tiefes Loch in den Sessel – und verlor das Bewusstsein.
Jetzt hing sie kopfüber im Nichts, an einer Eibe, wenn ihr fast vergessenes Bio-Wissen sie nicht täuschte – und rang nach Luft. Oder kratzte sie in Wahrheit immer noch mit ihren 300 Euro-Nägeln über das Learjet-Parkett, auf dem Weg nach Ibiza an einem banalen Relaxan erstickend?
Alles in Temke wehrte sich, die bittere Pille zu schlucken, die auf ihrer Zunge lag. Doch wenn sie sich weiter weigerte, würde sie ersticken, das war selbst ihrem Echsenhirn klar, das ungefragt das Ruder übernommen hatte.
Temke rang ihren Widerwillen nieder und zwang sich, die Tablette herunterzuwürgen. Sofort lösten sich die Fesseln.
Noch im Sturz erfüllt vom gesamten Wissen des Baums, fiel sie durch einen haushohen Steinbogen, hinter dem sie die vertrauten Straßen ihrer Heimatstadt auf sich zurasen sah …
Yaldros
Mit dem erwachenden Tag kehrte Yaldros nach all den Jahren nach Borlemas zurück – in die Stadt, in der er einst versklavt gewesen war und die nun aus nichts weiter bestand als aus Asche und Stein. Ohne Erinnerung an seine Vergangenheit war er damals als Jüngling am Rand des Ödlandes erwacht, von Jägern in Ketten gelegt und an diesen Ort verschleppt worden.
In den Tiefen des Berges, aus dem der Mineneingang noch immer wie ein dunkles Auge ins Tal starrte, hatte er geschuftet, und nachdem die Magie in ihm erwacht war und er in den Schächten anderen Kraft gespendet, deren Wunden geheilt und deren Schmerzen betäubt hatte, wurde er in den Turm der Gelehrten geführt, der inzwischen nichts weiter war als eine Hügellandschaft aus Schutt. Die Magiekundigen wollten damals seinen Zauber ergründen. Die Heilung sollte er fortan an den Herrschenden vollbringen. Da sie seine Zauberei nicht zu enträtseln vermochten, hofften sie, dass seine Herkunft Hinweise bieten könne. Seiner dunklen Haut und seinen Locken wegen vermuteten sie, er stamme aus der Fremde des Südens jenseits des Meeres. Um Gewissheit zu haben, sollte er im Thronsaal in Anwesenheit des Königs vor das Orakel treten. Und diese Begegnung veränderte alles – sowohl für ihn als auch für diese Stadt.
Damals war Yaldros mit gefesselten Händen vom Turm der Gelehrten zum Palast geführt worden, nun aber ging er den Weg von jedem äußeren Zwang befreit. Durch eine eingestürzte Wand stieg er schließlich in den Thronsaal. Bäume und andere Gewächse hatten sich hier verbreitet, als hätte sich der Wald nun, da sich die Stadt nicht mehr rührte, auf schlängelnden Wurzeln vom Hang in die Tiefe gewagt und sich zurückgeholt, was ihm einst geraubt worden war. Der kühle Kräuterduft, den das Orakel damals umgeben hatte, erfüllte die Luft. Die Worte von einst hatten ihn zurückkehren lassen. »Du und deinesgleichen – ihr seid nicht von dieser Welt«, hatte das Orakel gesagt. »Dein Vergessen ist nur eine Ruhepause. Kehre wieder, wenn du erholt bist.«
Der König und seine Würdenträger hatten ihn damals nicht freigelassen, aber mit Privilegien ausgestattet und dabei nicht geahnt, dass sie sich mit ihm den Untergang in ihren Palast geholt hatten.
Mit einem Gefühl der Genugtuung passierte Yaldros den umgestürzten Königsthron, der nur noch ein Relikt am Wegesrand war. Durch eine felsige Pforte, die sich in die gespaltene Wand fügte, folgte er einem Gang mit glimmenden Wänden zu einem Höhlengewölbe. An dessen goldener Schwelle wartete eine verschleierte Gestalt in lilafarbener Robe auf ihn – das Orakel.
»Du bist der Wanderer, der im Vergessen ruhte«, sagte es. »Du bist der Zauberer, der seine Leidensgeschwister mit magischen Händen heilte. Du hast den Bann gebrochen, der die Drachen unter dem Willen des Herrschers hielt. Du und deine Gemeinschaft – ihr habt euch den Weg in die Freiheit erkämpft. Deine Erinnerung rührt sich; die Ruhepause – sie ist vorüber.«
Yaldros stellte die Frage, die ihn all die Jahre nicht losgelassen hatte: »Bin ich tatsächlich fremd in dieser Welt?«
»Die Fremde wird dir immer dort zur Heimat werden, wo du Vertraute findest«, sagte das Orakel. Es fasste seine Hand mit ihren eiskalten Fingern und führte ihn zu den Stufen, die zum Wasser hinabreichten. In den Tiefen des Sees erstrahlte ein blaugrüner Schein, während hoch oben im Gewölbe feuriges Licht hinter dichtem Nebel tanzte.
Langsam tauchte Yaldros mitsamt seiner Kleidung ins Wasser ein, und kaum hatte er sich vom Ende der Treppe abgestoßen, spürte er den Sog aus der Tiefe. Nach einem letzten Blick auf das unbewegliche Orakel, sank er der Weltenpforte entgegen. Von Wasser und Magie umgeben erwachte in ihm die Erinnerung, und seine Hoffnung wurde ebenso wiedergeboren wie seine Neugier auf das, was er im nächsten Augenblick sein würde.
Vereint
Umgeben von Menschen als Teil einer Gemeinschaft kehren die Erinnerungen zurück. Zum ersten Mal bin ich mir sicher, dass es keine Träume sind. Ich bin Ajentje, Temke und Yaldros – und ich bin all die anderen, von denen ich zu träumen glaubte. Ich habe nicht nur im Traum als Yaldros gegen die Versklavung gekämpft, als Temke das Wissen des Weltenbaumes erlangt und als Ajentje alles Geld der Welt abgeschafft, sondern diese Dinge nacheinander oder sogar nebeneinander erlebt. Es sind meine Erinnerungen und meine Erfahrungen. Und sie alle münden in diese Welt, in der ich aufwuchs und nun Teil einer Gemeinschaft bin. Alles, was war, hat mich auf diese Aufgabe vorbereitet. Und doch ist es etwas Neues – eine andere Art von Kampf.
Das Portal, durch das ich gekommen bin, ist verschwunden. Jetzt bin ich Teil einer friedlichen, sich vorwärts bewegenden Menschenmenge. Einige halten Plakate, andere rufen Parolen, viele tragen Kinder auf den Schultern.
Der Teil von mir, der eben noch zweifelte, begreift jetzt, dass die Eibe mir das kostbarste aller Geschenke gemacht hat: Ich verstehe endlich, wie alles zusammenhängt. Und dass alles, was ich als Temke geglaubt habe, eine Lüge ist. Die Menschen um mich herum kennen die Wahrheit. Und ich will sie gemeinsam mit ihnen in den Himmel schreien.
Während wir gehen, treffen unsere Blicke aufeinander. Darin entdecken wir Gemeinsames und Einzigartiges. Du zum Beispiel, du hast ein wütendes Theaterstück geschrieben, aber in die Zeitung kamst du erst, als du dich festgeklebt hast. Und du, du hast so große Angst, etwas ändern zu müssen, aber noch größere Angst macht dir, nichts mehr ändern zu können. Oder du, ständig machst du dich wegen kleiner Entscheidungen fertig, wenn du dir mal wieder Fairtrade nicht leisten konntest, dabei weißt du, dass es nicht das Einkaufen sein wird, was die Welt rettet. Und du, du hast ein schlechtes Gewissen, weil du dich schon seit langem mehr engagieren willst, aber der Brotjob hält dich beschäftigt, nein, frisst dich auf. Jetzt sind wir hier, und wir bringen mit, was wir alle haben: mächtige Phantasien: die, dass das Kleine das Große verändert. Die, dass es morgen anders ist als heute. Die, dass es unsere radikalste Tat ist, Hoffnung zu haben.
Danke fürs Abonnieren und Lesen und bis zum nächsten Monat!
Christian, Lena und Judith