Oktober-Ausgabe 2021
Oktober-Ausgabe
Hallo und herzlich willkommen zur Oktober-Ausgabe des Vreundschaftsbriefs!
Erst mal: CRUNCH!
ANARCHIE DÉCO ist als Hörbuch beim Argon-Verlag erschienen und müsste sich spätestens Anfang November auch über alle Audiobuch-Abos hören lassen! Wir freuen uns total, dass Vanida Karun das Buch so fantastisch eingesprochen hat. Auf der Verlagswebsite könnt ihr auch in eine Leseprobe reinhören!
Die Oktober-Folge des GENDERSWAPPED PODCAST hört ihr diesmal nicht wie üblich Judith und Lena, denn die regulär geplante Aufnahme konnte wegen Chaos und Katastrophen nicht stattfinden. Aber dafür gibt es eine tolle außerplanmäßige Folge, in der Judith und Christian über Storytelling in allen möglichen Bereichen und vor allem das gemeinsame Geschichtenerzählen sprechen. Im Audio-Extra plaudert Judith ein wenig aus dem Übersetzungs-Nähkästchen zu ihrem aktuellen Übersetzungsprojekt.
Aus gesundheitlichen Gründen auf Verlagsseite kann GUERILLA JOURNALISTS zur Zeit nicht beim Ach je-Verlag erscheinen. Wir wünschen gute Besserung! Dadurch kommt es zu Verzögerungen - das Rollenspiel wird aber dieses Jahr noch über Drivethru gedruckt und direkt dort sowie bei Sphärenmeisters Spiele erhältlich sein. Den Link zu Drivethru reichen wir in der nächsten Ausgabe nach, noch ist es nicht freigeschaltet, da wir noch den Probedruck abwarten müssen.
Am 23.10.2021 erscheint die Anthologie Urban Fantasy - Going Queer bei Art Skript Phantastik, herausgegeben von Sarah Stoffers und Aşkın-Hayat Doğan. Sie enthält 25 Kurzgeschichten von queeren, deutschsprachigen Phantastik-Autor*innen. Lena hat auch eine Kurzgeschichte dazu beigesteuert, die den Titel “Geistergeschichte” trägt und in der es um eine junge Frau geht, die mit Geistern sprechen kann.
Bei System Matters erscheint demnächst die deutsche Version von Monsterhearts: Das PDF vermutlich schon in den nächsten Tagen, die gedruckte Version etwas später. Lena hat als Übersetzerin daran mitgearbeitet. Monsterhearts stammt von Avery Alder (die wir ja in gefühlt jeder Podcastfolge erwähnen) und ist ein Spiel über Monster-Teenager - spooky, sexy, queer, sagt die Verlagsseite und ja, das fasst es gut zusammen.
Nach der Neuerscheinung ist vor der Neuerscheinung! Judiths und Christians neuer gemeinsamer Roman SCHILDMAID (alias #GirlsWhoViking) ist vor wenigen Tagen bei Piper angekündigt worden und erscheint Ende Februar 2022. Da bis dahin ja noch etwas Zeit ist, erzählen wir euch in einem der kommenden Newsletter mehr dazu. 😇 #RagnarockOn
Judith und Christian waren zu Gast bei den Brennenden Buchstaben und haben in einem virtuellen 1920er-Nachtclub aus Anarchie Déco gelesen! Ihr könnt es auf YouTube nachschauen.
Am 06.10.2021 haben wir bei den PnPTings einen Oneshot mit Sarah Fartuun Heinze und James A. Sullivan gespielt, bei dem wir die Parallelen zwischen Rollenspiel und Theater erforscht haben und bei dem das Publikum mitspielen konnte. Wenn ihr nicht live dabei wart, könnt ihr euch das Video auf YouTube anschauen.
Termine
Buchmesse Frankfurt: Am 22.10. lesen Judith und Christian zusammen mit Jenny-Mai Nuyen und Kai Meyer im „Walden“! Es ist eine Veranstaltung im Rahmen des BOOKFEST und ihr müsst euch dazu nur registrieren – der Eintritt ist kostenlos.
BuCon Online-Lesung: Am 23.10. lesen die Vögte auf dem BuchmesseCon Online aus Anarchie Déco! Unser Leseraum ist auf dem Discord-Server des BuCon, Raum X+00!
FLUFF
Von Unbestimmtheitsstellen und dem Wunsch nach dem Ende der Geschichte
Lena:
Wir haben oben schon die Podcastfolge zum gemeinsamen Geschichten erzählen und das Video unserer Spielsitzung mit Sarah und James verlinkt. Sowohl beim Hören der Folge als auch bei der Nachbesprechung der Spielsitzung ging es viel darum, wie viel beim gemeinsamen Erzählen im gemeinsamen Vorstellungsraum entsteht - und wie viel auch ungesagt bleiben kann, weil es gar nicht genau ausdefiniert werden muss. Unbestimmtheitsstellen, hat James das genannt, und ich denke seitdem darüber nach, wie viel Unbestimmtheit wir in unseren Geschichten eigentlich haben, und wie viel wir brauchen. Gerade beim Rollenspiel, aber durchaus auch in anderen Medien, kommt es vor, dass wir Welten nur kurz bereisen, Figuren nur kurz kennenlernen. Das mag Absicht sein, ist aber manchmal auch der Logistik geschuldet - der Oneshot, bei dem die Gruppe zu spät angefangen hat, die Kampagne, die abbricht, weil eine Person aussteigt oder die Runde einschläft. Der Webcomic, der nicht mehr fortgeführt wird, oder die Serie, die überraschend abgesetzt wird. Ich kenne durchaus Leute, die mehrteilige Medien erst anfangen, wenn sie wirklich vollständig erschienen sind, und ich kann diesen Wunsch nach Vollständigkeit auch verstehen. Andererseits: Es gibt Serien, die ich liebe, auch wenn sie mit einem Cliffhanger abbrechen. Es gibt Buchreihen, die ich nie zu Ende lesen konnte und die mir trotzdem wichtige Dinge mitgegeben haben. Es gibt Rollenspielrunden, bei denen ich gerne mehr von Setting und Charakteren gesehen hätte, und die mir trotzdem noch immer im Gedächtnis sind, vielleicht gerade weil es nur ein gefühlt viel zu kurzer Ausflug war - wie ein sehr kleines, sehr leckeres Bonbon aus einem Laden, den man einfach nicht mehr wiederfindet.
Vielleicht ist der Wunsch nach abgeschlossenen Geschichten auch unserer angeborenen Veranlagung zum Geschichtenerzählen geschuldet, denn, wie Christian in der Podcastfolge so schön sagt: Wir können nicht nicht erzählen, und zur Geschichte gehört eben neben Anfang und Mitte auch ein Ende. Das hilft auch oft, im echten Leben den Dingen mehr Sinn zu geben, denn wer hat schon im Alltag so richtig befriedigende Geschichten, die mit einem runden Ende aufhören? Eben. (Oder, um schon wieder Crazy Ex Girlfriend zu bemühen: “Because life is a gradual series of revelations - That occur over a period of time - Some things might happen that seem connected - But there's not always a reason or rhyme.”) Erst das Erzählen der Geschichte macht, dass wir ihr ein Ende geben, dass wir sie in unseren Kopf so sortieren, dass sie für uns Sinn ergibt. Ich habe mich aber gefragt, wie sehr der Wunsch nach Abschluss und (Un)Happy Endings nicht auch der Erzähltradition entstammt, in der wir uns bewegen und in der die Heldenreise noch oft dominiert - und ob diese offenen Enden, Unbestimmtheitsstellen und unausgesprochenen Dinge nicht auch etwas sind, das wir benutzen können, um vielfältiger zu erzählen. Könnte das neben Inhalten, Stil und Sprache auch etwas sein, das wir nutzen können, um Traditionen zu brechen und Geschichten neu zu denken? Ich schreibe jedenfalls gerade an etwas, das sehr episodenhaft ist und eher eine Sammlung von kleinen Bonbons als ein schöner, durchgehender Kuchen. (Ja, ich kann nur Essensmetaphern, es tut mir leid!)
Judith meint dazu:
Ich habe darüber gerade auch unter einem anderen Gesichtspunkt nachgedacht: Ich übersetze gerade den zweiten Teil der “Lady Astronaut”-Reihe von Mary Robinette Kowal, und in beiden Büchern entspinnen sich vielfältige zwischenmenschliche Geschichten, die nicht unbedingt ein “Ende” erhalten - oder auch nur einen vorläufigen Abschluss. Ich hatte bei manchen davon aber nach Abschluss des 2. Buchs ein Bedürfnis danach, obwohl ich ja eigentlich weiß, dass zwischenmenschliche Beziehungen im realen Leben sehr selten ein befriedigendes dramaturgisches Ende haben. Trotzdem erwartet der Teil von mir, der davon geprägt ist, dass Geschichten auf einen Abschluss hinarbeiten, darauf, dass “das alles” noch geklärt wird zwischen den Figuren. Dass sie ihre Missverständnisse alle gründlich aufklären, ihre Animositäten bei- und alle Karten auf den Tisch legen.
Beim Rollenspiel kann an solchen Stellen so was wie “Personal Play” einsetzen - das Tagträumen, Niederschreiben oder auch zwischen den Sessions z.B. per Chat Ausspielen und Ausgestalten von Leerstellen. Und im Bereich von Büchern, Serien, Filmen sind das die ungenutzten Räume, in denen Fanfictions entstehen.
Ich finde es interessant, dass sich diese Form von “Unbestimmtheitsstelle” auf einem schmalen Grat befindet zwischen “Ich empfinde es als unbefriedigend, dass ich die Details nicht erfahre” und “Ich empfinde es als anregend, mir meine eigene Version auszudenken”. Mit “Knochenblumen welken nicht” habe ich im August auch ein Buch vorgestellt, das eine Geschichte “vom Rand aus” erzählt und nicht die Ritualmorde in den Mittelpunkt stellt, sondern das Bewegen der Figuren darum herum. Auch da habe ich mir selbst dabei zugesehen, wie ich zwischen “Aber das ist so ungewohnt, ich weiß nicht recht” und “Ich sehe, was die Autorin tut und finde es sehr spannend” geschwankt habe.
Ich denke, dass wir alle unsere festgefahrenen Ideen dazu haben, wie Geschichten funktionieren, und uns auf ganz unterschiedliche Weise daraus lösen können. Ungewöhnliche Rollenspielerlebnisse wie der One-Shot mit Sarah, James und Lena sind ein guter Anlass, um das zu erproben!
Unsere VAVORITEN - Tipps zum Lesen, Schauen und Hören
Lena
Ich hab im Urlaub ziemlich viel gelesen und kann nicht alle Bücher hier vorstellen. Deshalb habe ich mir zwei rausgepickt, die noch nicht in diesem Newsletter vorkamen:
Einmal “The Space Between Worlds” von Micaiah Johnson (danke an Trin für die Empfehlung!), ein SciFi-Parallelwelten-Roman, der mich echt umgehauen hat. Die Prämisse: Ein begabter Tech-Guru (der etwas an Elon Musk und Konsorten erinnert) hat eine Möglichkeit gefunden, in Parallelwelten zu reisen. Allerdings sterben die Reisenden sofort, wenn ihr Alter Ego in der bereisten Welt noch am Leben ist. Deshalb arbeiten als Weltenwandelnde vor allem Leute, die in möglichst vielen dieser Welten tot sind. Cara, die Protagonistin, ist eine von ihnen, tot in 8 von beinahe 400 Parallelwelten - denn sie stammt in den meisten davon nicht aus der behüteten Gated Community, in der das Wissenschaftsinstitut steht, sondern aus der von Verbrecherbossen und Glaubensgemeinschaften kontrollierten Wüstenstadt vor ihren Toren. Der Raum zwischen den Welten ist also nicht nur der Ort, an dem Cara sich bei ihren Reisen wiederfindet, sondern auch der, an dem sie sich täglich bewegt: Für die Leute aus Wiley City ist sie die aufgestiegene Gossenbewohnerin, für ihre Familie in Ashtown ein entfremdeter Emporkömmling. Dazu kommen verschiedene Geschichten, die man sich über den Raum zwischen den Welten erzählt, die Diskrepanz zwischen Naturwissenschaft und Religion und das Wissen von Cara über ihre verschiedenen Doppelgängerinnen und darüber, wie anders ihr Leben hätte laufen können. (Der Titel passt also auf mehrfache Weise perfekt - warum das Buch auf Deutsch nun unter “Erde 0” erscheint, will sich mir nicht recht erschließen.) Zu der sehr spannenden Geschichte und der Protagonistin, die ich großartig kratzig und verletzlich fand (vermutlich findet ihr sehr viele Rezensionen über die unsympathische Hauptfigur, wie immer, wenn Frauen mal nicht übernatürlich perfekt sind) und den deutlich erkennbaren Parallelen zu Passing, Code-Switching und Dazwischenstehen in unserer realen Gesellschaft kommt eine gute Portion Queerness inklusive nicht-binärer Nebenfiguren, ein sexwork-positives Setting, ein toller Schreibstil und ein in meinen Augen wirklich perfektes Ende. Sehr große Empfehlung.
Dann hab ich noch ein Sachbuch gelesen (danke an Judith fürs Ausleihen), nämlich “Der weiße Fleck” von Mohamed Amjahid. Darin geht es um kritisches Weißsein und die antirassistische Arbeit, die gerade wir als weiße Personen jeden Tag neu leisten sollten, um angelernte Rassismen zu verlernen und Allies zu sein, oder, wie Amjahid es liebevoll nennt: um Süßkartoffeln zu werden. Ich würde das Buch als sehr gute Lektüre für alle bezeichnen, die schon erkannt haben, dass Rassismus ein großes Problem ist und daran arbeiten wollen, antirassistisch zu denken und zu handeln. (Für den ersten Einstieg ins Thema sind vielleicht Bücher wie “Deutschland Schwarz-Weiß” oder “Exit Racism” besser geeignet.) Das finde ich super, denn wir können ja nicht jahrelang immer nur den ersten Schritt machen. Das Buch gibt, vor allem im letzten Kapitel, konkrete Hinweise und Anregungen, und auch ansonsten finden sich viele Aspekte und Überlegungen zu Themen, die man vielleicht nicht sofort Teil der Rassismusforschung angeführt hätte - die deutsche Erinnerungskultur, zum Beispiel. Und Pornos. “Der Weiße Fleck” ist sehr flüssig und mit einer guten Portion Ironie geschrieben und beinhaltet auch ein Glossar mit den wichtigsten Fachbegriffen sowie eine Liste mit weiterführender Literatur.
Zum Schluss noch ein Lesetipp für ein Buch, das ich noch gar nicht gelesen habe, aber irgendwie doch schon kenne: Am 30.09.2021 ist “Crow Kingdom” von Tino Falke erschienen. Tino und ich kennen uns schon seit über 15 Jahren und ich freue mich sehr, dass er endlich sein Romandebüt feiern kann! “Crow Kingdom” habe ich vor mehreren Jahren als Testleserin gelesen und es kann danach eigentlich nur noch besser geworden sein ;) . Wenn ihr also Lust auf eine kapitalismuskritische Geschichte rund um die meuternde Crew eines Vergnügungsparks habt, schaut es euch mal an (und achtet auf die Inhaltshinweise, denn ein paar heftige Themen hat das Buch auf jeden Fall)!
Judith
James Sullivans neuer Zweiteiler "Die Chroniken von Beskadur" hat viele Lagen, und jede einzelne davon lohnt sich. Die oberste Lage (oha, jetzt kommen mir Shrek-und-Zwiebel-Vergleiche in den Sinn!) ist die Geschichte von Ardoas, einem Elf, der gerade "volljährig" geworden ist und zwar weiß, dass er die jüngste von mehreren Inkarnationen einer Heldin seines Volkes ist, aber die Erinnerungen an seine früheren Leben nicht erfassen kann. Er bricht, angespornt von seiner Mentorin, in die Welt der Menschen auf, wo ihn Begegnungen, Konflikte, Orte, Mordversuche und Orakelblicke mit seinen vergangenen Leben verknüpfen.
Die zweite Lage dreht sich um Unsterblichkeit, Wiedergeburt, Erinnerung, Schicksal und Tradition bei Elfen, aber auch bei anderen Fantasyvölkern und da kommt ganz viel Progressives ins Fantasyboot: Es sind keine Themen, die auf den ersten Blick Parallelen zu unserer unphantastischen Lebensrealität haben, aber die ja auch in der Science-Fiction oft gestellte Frage "Wie würden wir mit Unsterblichkeit umgehen?" erhält hier behutsame Antworten, die nicht auf das unvermeidliche "Weltherrschaft!!" zulaufen, die bei vielen anderen Werken implizit mitschwingt. Die Elfen sind auch nicht das "schwindende Volk", das seine besten Zeiten hinter sich hat und der Vergangenheit nachtrauert, sondern ihre Erinnerungskontinuität ist etwas, das zutiefst anrührt und dabei verblüffend vertraut und menschlich ist. Neues und Spannendes passiert hier ganz tief im phantastischen Weltenbau.
Und die dritte Lage, die ich erkenne, hakt da direkt ein: Die Elfen bei Sullivan haben ein afrofantastisches Element - würde ich subjektiv sagen. Ähnlich wie beim Afrofuturismus verknüpfen sie die Erinnerung an eine düstere Vergangenheit mit einer selbstermächtigten Gegenwart und der Hoffnung auf eine utopischere Zukunft. Und das verbindet sich wiederum mit der ersten Lage, denn auch die "Oberfläche" wird davon erfasst und alles geht ganz selbstverständlich Hand in Hand - das Abenteuer, der Blick in den Weltenbau, die Philosophie darunter.
Wer das nicht liebt, der*m kann ich auch nicht mehr helfen.
Und damit endet unser Vreundschaftsbrief für Oktober 2021. Danke fürs Abonnieren und Lesen, wir wünschen euch einen wundervoll-spookigen Monat. Bis zum nächsten Brief.
Lena, Judith und Christian