Juli-Ausgabe 2022
Herzlich Willkommen zur Juli-Ausgabe des Vreundschaftsbriefs!
CRUNCH
Im Genderswapped Podcast reden Lena und Judith über Emotionen im Rollenspiel und als Medienthema über Laurie Pennys “Sexuelle Revolution”.
Im Audio-Extra erzählen wir von je drei emotionalen Momenten im Rollenspiel.
Auf Patreon gab es Anfang Juli das Erzählspiel Eine romantische Affäre von unserem Vriend Micha!
Beim Loud-and-Proud-Festival auf Instagram redeten James Sullivan und Judith über Progressive Phantastik, und ihr könnt den einstündigen Talk hier nachhören! Auch die anderen Gespräche und die Lesung aus “Wie ein bunter Traum”, bei der Judith dabei war, lassen sich auf dem Loud-and-Proud-Bookfestival-Account nachholen!
Die neue Ausgabe der Queer*Welten ist immer noch relativ frisch erschienen und freut sich über Leser*innen, Reaktionen und Rezensionen. Außerdem gibt es für die 9. Ausgabe eine neue Sonder-Ausschreibung: Queer Merfolk in 9 Sätzen!
Termine
16.7. - Fantasy im Park! Die Buchhandlung Eulenspiegel in Hochheim ein Fantasyfestival im Freien aus. Bei schöner Picknick-Atmosphäre im Hummelpark gibt es ein abwechslungsreiches, fantastisches Leseprogramm, bei dem die Vögte aus “Schildmaid” lesen. Ebenfalls dabei sind Tom & Stephan Orgel, Jenny-Mai Nuyen und Kevin Hearne. Es beginnt um 18 Uhr, Eintritt: 25€ und VVK läuft über die Buchhandlung Eulenspiegel Weiherstraße 16, 65239 Hochheim am Main
28.7. - Stadtglühen in Aachen - noch ein Park-Termin! Um 16 Uhr findet im Moritz-Braun-Park in Aachen-Eilendorf eine Rheinland-Phantastik-Lesung mit den Vögten (“Schildmaid”), James Sullivan (“Das Erbe der Elfenmagierin”), Patricia Eckermann (“Elektro Krause”) und Stefan Müller (“Die weiße Bruderschaft”) statt. Der Eintritt ist frei.
FLUFF
Über scheinbare Normalität und deren Preis (von Lena)
Manchmal erinnere ich mich an die ersten Wochen der Pandemie. März 2020: Diese Mischung aus Unglauben, Angst und dem unwirklichen Gefühl, dass auf einmal alles anders ist. Und die erstaunlich hoffnungsvollen und positiven Emotionen, die dazukamen: Es geht auf einmal. Wir machen das. Wir als Gesellschaft, als Staat, als Freundeskreis: Wir arbeiten größtenteils im Homeoffice, machen allein Spaziergänge durch menschenleere Straßen, merken, dass wir auch über Zoom und Skype Kontakt halten können. Wir erkennen, dass Meetings nicht heißen müssen, dass man dafür per Inlandsflug von Hamburg nach München fliegt. Wir treffen uns zu Online-Spieleabenden oder machen Watch Partys der vielen kostenlosen Angebote, die Museen, Theater, Künstler*innen und Spieldesigner*innen ins Internet gestellt haben, um diese schwere Zeit etwas leichter zu machen. Und wir haben erkannt, was wirklich wichtig und unverzichtbar ist: Care-Arbeit, bezahlt wie unbezahlt, ein stabiles Gesundheitssystem, die Möglichkeit der digitalen Teilhabe, die Option auf guten, betreuten Fernunterricht für Schüler*innen und Studierende, und zwar unabhängig von der finanziellen Situation ihrer Familien.
Vielleicht, habe ich damals gedacht, vielleicht erwächst aus all dem Grauen doch etwas Gutes und ein Wandel wird angestoßen, der am Ende zu einer Verbesserung für alle führt.
Etwas über zwei Jahre später erscheinen diese Gedanken mir wie ein törichtes Wunschdenken eines naiven Kindes.
Denn natürlich ist es so nicht gekommen, natürlich haben Sozialdarwinismus, neoliberales Denken und kapitalistische Zwänge dafür gesorgt, dass wir inzwischen in einem intrapandemischen Zustand leben, in dem wir von Regierung und zweifelhaften “Expert*innen” in eine falsche Normalität gegaslightet werden, während man denen, die nach wie vor auf eine Infektion mit unbekannten Langzeitfolgen verzichten wollen, Angststörungen und “Höhlensyndrome” unterstellt. Es geht mir hier nicht darum, individuelle Entscheidungen zu verurteilen - nach zwei Jahren können die meisten von uns auch einfach nicht mehr ohne jeden Kontakt daheim sitzen. Viele Freiberufler*innen müssen schon aus beruflichen Gründen wieder auf Veranstaltungen und zu Terminen. Und natürlich ist die eigentliche Gefahr durch das Virus nicht mehr so krass wie Anfang 2020. Es gibt Impfungen und Medikamente und ein größeres Wissen über korrekte Behandlungen und hilfreiche Schutzmaßnahmen. Es gibt Masken, Schnelltests und Luftfilter. Es gibt - theoretisch - sehr gute Möglichkeiten, wieder ziemlich viel Normalität zu leben und trotzdem eine gewisse Sicherheit zu gewährleisten.
Das wissen wir. Und Politik, Veranstalter*innen und gefühlte 90 % der Menschen geben einen absoluten Scheiß drauf und simulieren, es sei 2019.
Während die Sommerwelle mit Omikron BA4/5 in Deutschland unaufhaltsam anrollt, werden Schnelltests kostenpflichtig und die Politik fabuliert über Maßnahmen ab Herbst. Die Maskenpflicht gilt nur noch in Bahn und ÖPNV. Leute, die 2 Jahre lang im Home Office gezeigt haben, dass sie ihren Job genauso gut daheim erledigen können, werden zurück ins Büro gezwungen. Arztpraxen bekommen kein Geld mehr für PCR-Tests. Massenveranstaltungen finden ohne jede Schutzmaßnahmen statt und werden zu Superspreading-Events. Lesungen, Messen, Diskussionsrunden, Conventions und andere Veranstaltungen, die 2 Jahre lang online oder hybrid stattgefunden haben, werden wieder als reine Präsenzveranstaltung gemacht, natürlich ohne jede Maskenpflicht oder sonstige Maßnahmen, das müsste man ja kontrollieren und durchsetzen, wie unangenehm.
Warum ich darüber hier im Newsletter schreibe? Weil das alles auch ein Thema ist, was uns als Phantastik- und Rollenspielfans angeht. Denn wie immer reicht es einfach nicht, wenn diejenigen, die auf Schutzmaßnahmen wirklich dringend angewiesen sind, weil sie Risikopatient*innen sind und sich auf keinen Fall anstecken dürfen, sich darum kümmern. Und weil der Take “wer Angst hat, sich anzustecken, kann ja draußen bleiben/Maske tragen/nicht kommen” eine dermaßen ableistische Kackscheiße ist, dass ich einfach nur entsetzt bin, so was gerade massenweise von Orgas zu lesen, die eigentlich coole Veranstaltungen machen. Wenn ich mir ausmale, wie die Hopepunk-Variante dieser endlosen Pandemie aussähe, dann gibt es dort gesunde, fitte Leute, die sagen: “An dieser Podiumsdiskussion nehme ich nur teil, wenn im Saal Maskenpflicht ist”. Es gibt Orgas, die Rundmails schreiben und fragen, ob Leute Luftfilter daheim haben, die sie mitbringen können. Es gibt kostenlose Teststationen vor den Eingängen und, wenn es möglich ist, auch die Möglichkeit, einen Teil der Veranstaltung draußen abzuhalten. Es gibt (je nach Veranstaltung bezahlte oder ehrenamtliche) Leute, die dafür sorgen, dass weiterhin Lesungen, Panels und Barcamps als Hybridveranstaltung stattfinden, dass Leute auch von daheim aus zusehen und mitmachen können - was übrigens nicht nur für Risikogruppen, sondern auch für Leute, die wenig Geld haben, aus Care-Arbeits-Gründen nicht von daheim wegkönnen oder aus anderen gesundheitlichen Gründen lieber vom Wohnzimmer aus teilnehmen, gut ist. Es ist alles ein bisschen anders und ein bisschen mühsamer, aber wir wurschteln uns da durch. Es gibt eine Normalität, die nicht wie 2019 ist, aber dafür weniger Menschen ausschließt.
Ich wünschte, ich könnte in diese Hopepunk-Realität abbiegen. Aber momentan bin ich in der gefangen, in der es sich anfühlt, als hätten die Querdenker und die kaltherzigen Egoist*innen gewonnen. In der es für Leute wie mich, die schon eine chronische Krankheit haben und ungern eine weitere hinzufügen möchten, nur die Möglichkeit gibt, eben daheim zu bleiben, wenn alle zu coolen Messen, Conventions und Lesungen fahren.
Manchmal stehe ich an der Ubahnstation und lasse schon die zweite Bahn abfahren, ohne einzusteigen, weil in jedem Waggon trotz Maskenpflicht mehrere Leute ohne Maske sitzen und überheblich vor sich hin grinsen. Die Bahn fährt davon, ich bleibe zurück. Und das erscheint mir wie ein Sinnbild auf die ganze Situation.
Das Leben geht weiter, egal wie viele zurückbleiben.
Ich bleibe zurück und denke an März 2020, als ich dachte, wir hätten etwas gelernt.
Vavoriten
Judith empfiehlt:
Die neue Disney+-Serie Ms. Marvel hat bislang die besten Bewertungen, aber die geringste Einschaltquote unter den MCU-Serien eingefahren. Dafür gibt es sicherlich einige Gründe - mehrere Folgen gingen parallel mit “Obi-Wan Kenobi” online, es tauchte bislang keine Figur aus den Kinofilmen auf, und die ganze Serie hat einen sehr cuten young-adultigen Vibe, der mit seinen kleinen Grafiken an “Into the Spider-Verse” erinnert. Und wie immer kann es daran liegen, dass es diesen Teil einer jeden Fanbase gibt, der bei einer weiblichen Hauptfigur of color nicht einschaltet. Hauptdarstellerin Iman Vellani jedenfalls ist absolut adorable als Captain-Marvel-Fangirl Kamala Khan, und ihre ganze Familie, ihre muslimische Community und ihre Berufung als Superheldin sind einfach ganz wunderbar charmant und stürzen Kamala in eine City-of-Mist-artige Zerreißprobe zwischen Alltagsleben und mystischen Kräften.
Ich gestehe: Ich bin nie mit Ursula K. Le Guins “Erdsee”-Romanen warmgeworden. Aber als bei einem Vortrag im Brecht-Haus im vergangenen Jahr der vierte Erdsee-Roman Tehanu als Beispiel für Progressive Phantastik genannt wurde, hab ich einfach beschlossen, mittendrin einzusteigen. Der Roman, fast zwei Jahrzehnte nach seinem Vorgänger erschienen, läuft antithetisch zu den Geschichten um Erzmagier, Priesterinnen und Drachen. Die ehemalige kindliche Priesterin aus “Die Gräber von Atuan”, Tenar, ist alt geworden und hat sich eines verletzten, verbrannten Kindes angenommen, als der Magier Ogion sie an sein Totenbett ruft. Sie begleitet ihn über diese letzte Schwelle und findet kurz darauf dessen ausgebrannten Schüler Ged alias Sperber in den Bergen - die Hauptfigur der ersten Erdsee-Trilogie. Er hat seine Magie verloren und flieht vor jenen, die ihren Erzmagier suchen, in die Einsamkeit. Das Buch liegt wie ein Stolperstein auf glattgeschliffenen Heldenreisenpfaden, sinnt über die Macht von Männern und Frauen in einer patriarchalen Gesellschaft nach, darüber, ob nicht alle Unterschiede konstruiert sind, und ob es statt einer Ermächtigung der einen nicht eine Machtlosigkeit, eine Herrschaftslosigkeit aller geben sollte. Ich las es als anarchafeministischen Fantasyroman, vielleicht den einzigen, auf jeden Fall den ersten, den ich kenne, und er hat mich mit seiner Ruhe, seinem klaren Blick und seinen Abgesängen-in-Nebensätzen sehr angerührt und bewegt.
Falls ihr durch “Obi-Wan Kenobi” wieder eure Liebe zu klassischen Star-Wars-Charakteren entdeckt habt, möchte ich euch die Leia-Romane von Claudia Gray sehr ans Herz legen. Leia - Princess of Alderaan geht in Leias Jugend zurück, erkundet alderaanische Kultur und die Beziehung zu ihren Eltern Bail und Breha und baut Verbindungen zu neueren Figuren wie der von Laura Dern dargestellten Amilyn Holdo auf. Bloodline, früher erschienen, spielt chronologisch später - zwischen “Die Rückkehr der Jedi-Ritter” und “Das Erwachen der Macht”. Leia kämpft als Politikerin der Neuen Republik gegen Ewiggestrige. Und versucht dabei, ein für Star-Wars-Fans offensichtliches, jedoch der Neuen Republik verborgenes Detail ihrer Ahnenlinie verborgen zu halten. Beides sehr tolle Romane, mit denen Gray beweist, dass sie beides kann: sehr gute Bücher schreiben und Franchise-Futter liefern.
Christian empfiehlt:
Es gibt ja angeblich Hundemenschen und Katzenmenschen, und ich bin nicht sicher, ob ich eins davon bin, trotzdem hat mir Dogs of War von Adrian Tchaikovsky, das größtenteils aus Hundeperspektive geschrieben ist, ziemlich gut gefallen - bzw. aus Hund-Mensch-Kriegs-Bioform-Perspektive. Denn eigentlich geht es nicht um Hunde, sondern um Verantwortung für das eigene Handeln, Vertrauen, den Freiheitsbegriff, die Machenschaften skrupelloser Konzerne, den Umgang der Gesellschaft mit Veteran*innen und das Recht auf Leben. Die Art und Weise, wie aus der Sicht von künstlich geschaffenem Leben erzählt wird, erinnert an Murderbot und dürfte allen Freunde der Reihe gefallen. Da im exellent gelesenen Hörbuch (von zwei Sprecher*innen, was es auch nochmal interessanter macht) die carnide Lebenswelt besonders gut rüberkommt, empfehle ich ausdrücklich das.
Der Zoologe Tchaikovsky hat aber auch weniger kuschelige Tiere in peto, daher sei in einem Rutsch noch sein Children of Time / Kinder der Zeit genannt, das ich schon vor einiger Zeit gehört habe. Hier geht es um Spinnen statt Hunde, der Fokus ist um einiges weiter und das Genre ist eher SF als Cyberpunk, und es ist sogar noch ein bisschen besser, würde ich sagen.
Lena empfiehlt:
Ich habe neulich Who I was with her von Nita Tyndall gelesen - einen Young Adult-Roman über Queerness, Outing, Trauer und (Davon-)Laufen. Hauptfigur Corinne erfährt zu Beginn, dass ihre Freundin Maggie bei einem Autounfall verstorben ist und weiß nicht wohin mit ihrer Trauer, denn sie und Maggie waren nur heimlich ein Paar und außer Maggies Bruder wusste niemand von ihrer Beziehung. Corinne ist im letzten Jahr der High School und wollte eigentlich die letzten Monate noch durchstehen, ehe sie ihre Südstaaten-Kleinstadt verlässt und am College ein neues Leben beginnt. Ihr Ticket dazu: Ein Stipendium, das als Mitglied des Crosslauf-Teams zu ergattern hofft. Der Roman erzählt abwechselnd die Ereignisse nach Maggies Tod und in Rückblenden, wie sie und Corinne sich kennengelernt haben und ein Paar wurden. Dabei dreht er sich viel um die Angst vor dem Coming Out und die Frage, ob Corinne wirklich professionelle Läuferin werden will oder nur weitermacht, um Maggies Traum zu verwirklichen. Eigentlich lese ich inzwischen lieber Bücher, in denen Queerness nicht mehr um die Frage von Coming Out und befürchtete Zurückweisung kreist, aber Who I was with her hat mir trotzdem gut gefallen. Der Roman ist im besten Sinne messy - keine Figur ist perfekt, Trauer macht komische Sachen mit Leuten, es wird nicht am Ende alles gut, aber eben auch nicht alles schlecht. In der Danksagung dankt Nita Tyndall dem Verlag dafür, dass er their “quiet sad bisexual novel” veröffentlicht hat, und diese Beschreibung fasst auch die Stimmung des Buches perfekt zusammen. Ich habe es gerne gelesen.
Danke fürs Abonnieren und Lesen und bis zum nächsten Monat!
Judith, Christian und Lena