April-Ausgabe
Herzlich Willkommen zur April-Ausgabe des Vreundschaftsbriefs!
CRUNCH
Christians und Judiths erstes Hörspiel “Die Vorboten” erscheint im Mai auf Audible, als Spin-off zur zeitgleich startenden Serie “Der Greif”. Hier findet ihr bereits die Ankündigung (leider mit der falschen Autor*innenangabe, wir hoffen, dass wir das noch korrigieren können). Auf YouTube gibts zudem eine Leseszene aus dem Studio mit den Hauptdarsteller*innen Luna Wedler, Michelangelo Fortuzzi und Lena Urzendowsky. Dort findet sich außerdem die Info: “Die sechs Episoden der Hörspiel-Serie sind für jeden komplett kostenfrei ab dem 26. Mai 2023 verfügbar. Benötigt wird nur ein Amazon.de-Login, kein Audible-Abonnement.” Wir finden bis zum Mai-Newsletter noch mehr darüber heraus, freuen uns aber, dass das Hörspiel für alle (die einen Amazon-Login haben) gratis verfügbar sein wird!
Queer*Welten 10 ist vorbestellbar! Die Jubiläumsausgabe mit einem Schwerpunkt auf Science-Fiction-Texten und vielen tollen Postkarten aus queeren Welten wird Ende Mai erscheinen. Ihr könnt sie jetzt schon bestellen und erhaltet sie dann direkt nach Erscheinen. Was genau enthalten ist, erfahrt ihr in diesem Artikel.
Bis zum 15.04.2023 gibt es außerdem in Kooperation mit dem Weltmuseum Wien Freikarten für die Ausstellung “Science Fiction(s) - Wenn es ein Morgen gäbe” zu gewinnen - hier erfahrt ihr, wie es geht.
In der April-Folge des Genderswapped Podcast reden wir mit Gästin Tahina über die Repräsentation von Krankheit und Behinderung im Rollenspiel und in der Phantastik: Welche Klischees können wir nicht mehr sehen, welche Darstellungen finden wir gelungen und was steckt eigentlich hinter Begriffen wie der Löffeltheorie?
Im Audio-Extra führen wir das Thema weiter und überlegen uns, welche Aspekte von Repräsentation man im Rollenspiel umsetzen könnte.
Diesen Monat gibts im Patreon eine Kurzgeschichte der Vögte. Sie heißt “Die Papiermühle” und folgt der Kishōtenketsu-Erzählstruktur.
Lena baut ab sofort ihre selbständige Tätigkeit als Lektorin und Korrektorin weiter aus, also wenn ihr Bedarf an Lektorat, Korrektorat, Sensitivity Reading oder dergleichen habt, schaut doch mal auf ihrer Website vorbei.
Termine
26.4.: Workshop “Emanzipative Fantasy” beim Queerreferat FFM: Am 26. April um 19 Uhr ist Judith zu Gast im Queerreferat in Frankfurt am Main. Details findet ihr bald auf jcvogt.de!
9.5.: Feministische Buchwoche der Bücherfrauen: Am 9. Mai liest Judith um 19 Uhr bei der Feministischen Buchwoche aus “Schildmaid” im Allerweltshaus, Geisselstraße 3-5, 50823 Köln
12.5.: 1. Kölner Fantasy-Festival: Im Mai findet vom 3.5-13.5. an wechselnden Orten in Köln ein großes Fantasy-Lesefestival statt! Die Vögte lesen am 12. Mai zusammen mit Iva Moor, das ganze Programm findet ihr hier.
FLUFF
Fakes und Likes (von Lena)
In der März-Folge des Podcasts hatten wir ja schon mal über (angebliche) KIs geredet und waren am Rande auch darauf eingegangen, wie gut man damit Fakes generieren kann - und wie sich das sehr schlimm auf marginalisierte Personen im Internet auswirken kann (Stichwort AI-generierter Revenge Porn beispielsweise). Inzwischen sind ein paar Wochen ins Land gegangen, und es gab zum Thema Fakes so einiges zu bemerken: Der erste April wurde einmal mehr zu dem einzigen Tag im Jahr, an dem manche Leute hinterfragen, ob das, was sie im Internet lesen, eigentlich echt ist. Schon vorher waren einige Bilder durchs Netz gegangen, die mit AI erstellt wurden: Falsche Fotos der Festnahme des Ex-Präsidenten Trump zum Beispiel, der inzwischen zwar tatsächlich verhaftet wurde, aber eben nicht an dem Tag und mit den Bildern, die gezeigt wurden. Oder das vermeintliche Foto des Papstes in einer Art Mischung aus Robe und Funktionsjacke, das eine ganze Weile lang durch die Timelines geisterte, ehe es als Fake-Bild klargestellt wurde. Warum diese Fotos erstellt werden? Vermutlich eine Mischung aus Langeweile, KI-Bilder-Begeisterung und dem Wunsch nach vielen Likes. Gerade auf Twitter haben ja Accounts, die es mit der Wahrheit (oder den Credits für Fotos und Bilder) nicht allzu genau nehmen, eine lange Tradition. Accounts wie HoaxEye oder FakeHistoryHunter weisen täglich auf falsche “historische” Bilder oder gefälschte spektakuläre Naturaufnahmen hin. Grund für die Fake-Bilder-Flut ist oft, einem Account viele Follower zu verschaffen (funktioniert auch mit niedlichen Tierbildern), um ihn dann an Firmen oder Personen zu verkaufen, die damit Werbung für ihre Produkte machen.
Was mich zu einem verwandten Thema bringt, nämlich der Jagd nach Klicks, Likes und Aufmerksamkeit auch ohne (direkte) monetäre Entschädigung. Auch da gab es in den letzten Wochen einige bemerkenswerte Ereignisse, einige davon hatten auch mit Fakes zu tun, andere nicht. Allen gemein ist aber, dass für manche Leute oder Seiten offenbar jedes MIttel recht ist, um Aufmerksamkeit zu erhalten.
Ganz ohne AI-Beteiligung kam das Thema Fake Anfang April auf, als aufflog, dass ein bekannter Blog und Twitteraccount, der sich seit Jahren zum Thema Inklusion und Behindertenrechte engagiert, zumindest fragwürdig ist: “Jule Stinkesocke”, eine Bloggerin und bekannte Twitter-Userin, löschte Blog und Twitterprofil, nachdem nachgewiesen wurde, dass ihr angebliches Profilfoto stattdessen eine neuseeländische Porno-Darstellerin zeigt und niemand, auch nicht Journalist*innen, die sie für Zeitschriften porträtiert hatten, die Person je getroffen hatten. Erfundene Geschichten einer angeblich mehrfach-marginalisierten Person, die trotzdem ihr Leben meisterhaft im Griff hat - die 60.000 Follower auf dem Jule-Profil zeigen, dass es funktioniert. Ich persönlich finde es besonders verwerflich, wenn Personen sich, und sei es auch vielleicht aus gutgemeinten Motiven, die Perspektiven von Marginalisierten aneignen und sich als Angehörige dieser Gruppe ausgeben. Es raubt denen, die selbst betroffen sind, die Sichtbarkeit, es wirft, wenn es herauskommt, ein schlechtes Licht auf die erzählten Geschichten, auch wenn sie vielleicht an echte Erfahrungen angelehnt waren. Die Erzählungen von “Jule” darüber, wie sie immer wieder in nicht fahrenden Fahrstühlen stecken blieb, Probleme mit der Deutschen Bahn hatte oder im Alltag mit üblen Bemerkungen belästigt wurde: Die kenne ich auch von echten behinderten Personen, die über ihr Leben berichten. Nicht-Betroffene, die wissen, dass der Account gefaked ist, werden diese Berichte nun vielleicht weniger ernst nehmen. Und für Nicht-Betroffene, die darüber nicht informiert sind, ist "Jule" das bewundernswerte Beispiel für eine Frau, die es doch geschafft hat, trotz ihrer Behinderung Ärztin mit eigenem Haus und nebenbei noch semi-professionelle Sportlerin zu sein - ein in unserer ableistischen sowieso schon von Inklusion weit entfernten Gesellschaft ein großer angerichteter Schaden.
Ebenfalls großen Schaden angerichtet hat das Portal queer.de, das sich dieses Jahr einen der geschmacklosesten und übelsten Aprilscherze erlaubte, die ich je gesehen habe: Es wurde berichtet, dass es analog zu Frauenhäusern demnächst auch Zufluchtsunterkünfte für trans Jugendliche geben soll, die aus ihren Familien fliehen müssen. Wie zur Hölle man auf die Idee kam, dass eine solche Falschmeldung in Zeiten, in denen Transfeindlichkeit gefühlt täglich neue Höhepunkte von Hass, Ausgrenzung und Vernichtungsfantasien erreicht, eine gute Idee wäre; wie man nicht sehen konnte, dass dieser Fake-Artikel vielleicht verzweifelten trans Jugendlichen Hoffnung gibt, die man dann mit einem “April, April” zerschmettert - ich habe keine Ahnung, wie das niemandem aufgefallen ist. Ein sehr uneinsichtiger Rechtfertigungsartikel machte alles noch schlimmer, erst nach Tagen erfolgte eine Entschuldigung. Auch hier war offenbar der Wunsch nach Aufmerksamkeit und Empörungs-Herumreichen des Artikels in den sozialen Medien einkalkuliert und wichtiger als die Frage, was man damit bei Betroffenen auslöst. Und, um die Aufzählung an shitty Aufmerksamkeitsgebuhle noch um einen Punkt zu erweitern: Unter dem Hashtag #UnverlangtEingesandt macht sich der Verlag Kiepenheuer&Witsch auf TikTok über eingesandte Manuskripte lustig und schlägt somit Kapital aus den Hoffnungen von Menschen, die ihre Texte dem Verlag anvertraut haben. Seien sie auch noch so unbeholfen oder unpassend - der Buchmarkt ist übel und gatekeepend genug, ohne dass Autor*innen noch damit rechnen müssen, dass ihre Manuskripte der Gegenstand von hämischen TikTok-Videos werden.
Alles in allem - es ist mit der großen Verfügbarkeit von Bildgeneratoren, die man mit ein wenig Übung alle möglichen Fotos ausspucken lassen kann, noch ein ganzes Stück schwerer geworden, falsche Fotos und unwahre Nachrichten als solche zu erkennen. Es gibt natürlich auch Software, die Bilder auf Echtheit überprüft, aber diese Mühe machen sich vermutlich die wenigsten. Schon seit Jahren ist zu sehen, dass in punkto Medienkompetenz und Quellenprüfung viele Menschen sehr wenig bewandert sind. Ich denke, dass wir dringend einen Umgang damit finden müssen, wie wir mit der immer größer werdenden Fake-Welle umgehen - ohne dabei aus den Augen zu verlieren, dass die Anonymität des Internets gerade für marginalisierte Menschen auch eine dringende Voraussetzung sein kann, um sich überhaupt frei zu äußern. Zumal auch Klarnamen und echte Fotos nicht davor schützen, dass unwahre Geschichten erzählt werden. Und auch wenn es natürlich in Ordnung ist, Social Media zu nutzen, um die eigene Website, den eigenen Verlag, das eigene Buch usw. zu bewerben: Es sollten sich alle fragen, mit welchen Mitteln sie das tun und wen sie dafür unter den Bus werfen. Wenn es nur noch darum geht, die größtmögliche Aufmerksamkeit zu erreichen, werden auch ohne die Gefahren von “AI” und böswilligen Fakes die guten Seiten des Internets schnell von den schädlichen und üblen Aspekten übertroffen.
Vavoriten:
Christian empfiehlt:
Ghost of Tsushima ist ein Action-Adventure nach Art von “Red Dead Redemption” und spielt auf der gleichnamigen Insel zwischen Japan und Korea während der mongolischen Invasion im 13. Jahrhundert. Das Spiel folgt dem Samurai Jin Sakai, der seinen Ehrenkodex opfern und zum Geist werden muss, denn nur so kann er den Invasoren begegnen. Die Schwertkämpfe sind spaßig, sehen realistisch aus und beschwören das Flair historischer Samurai-Filme, was dadurch verstärkt wird, dass man das Spiel sogar in einem Schwarzweiß-Modus und mit japanischer Tonspur genießen kann, wenn man möchte. Ansonsten ist es auf der PS5 optisch einfach eines der schönsten Spiele, die ich je gespielt habe - allerdings ist es extrem brutal.
Ich habe endlich nochmal gute Gunpowder-Fantasy entdeckt: The Unbroken von C. L. Clark. Eine als Kind ihrer Heimat entrissene Soldatin kehrt in eine an “Französisch-Nordafrika” angelehnte Kolonie zurück. Als eine Revolution ausbricht, muss sie sich über ihre Loyalitäten klar werden, während eine Prinzessin sich dort beweisen muss, um ihren Thron nicht zu verlieren. Gewürzt wird das ganze mit der Suche nach verlorener Magie und einem interessanten Weltenbau, in dem die Anbetung von Gottheiten im Sinne der Aufklärung verboten ist. Das Ganze erinnert angenehm an die “Shadow Campaigns” von Django Wexler inklusive der queeren Protagonistinnen, allerdings fügt es eine starke kolonialismuskritische Perspektiven einer Schwarzen, nichtbinären Autor*in hinzu.
Judith empfiehlt:
Annalee Newitz hat ein neues Buch geschrieben, whoop-whoop! Da ich ja alles von them liebe, habe ich mich auch sehr auf The Terraformers gefreut und wurde nicht enttäuscht. Das Buch erzählt in drei Generationen von entscheidenden Momenten im Terraforming des Planeten Sask-E (oder Sasky). Das Konzern-Marketing preist ihn als Urzeitidylle an, was Rangerin Destry beschäftigt, die es nun mit illegal grillenden Vorrzeitpicknickern zu tun bekommt, auf der Suche nach dem inneren Steinzeitmann. Als sich ein Vulkan im Westen des Megakontinents regt, findet Destry heraus, dass sich tatsächlich eine vorzeitliche Spezies auf dem Planeten befindet, die eigentlich längst verschwunden sein sollte: die ersten Terraformer, die designt wurden, um toxische Gase zu atmen und den Planeten für die Bevölkerung durch Homo Sapiens vorzubereiten. Aber gibt es Platz für diese selbstorganisierte Zivilisation zwischen Turbokapitalismus und Gentrifizierung? Ich würde gern mehr darüber erzählen, will aber nicht spoilern, daher nur so viel: Wenn ihr immer mal von einer antikapitalistischen Rebellion aus Sicht eines organischen Zugs lesen wolltet, dann ist das euer Buch.
Fierce Femmes and Notorious Liars von Kai Cheng Thom ist poetisch-phantastische Auto-Fiktion darüber, wie eine trans Jungendliche aus ihrem bedrückenden Elternhaus in der Stadt Gloom flieht und sich einer Gruppe trans Frauen / Femmes in der Street of Miracles anschließt. Die Straße steht unter dem übernatürlichen Segen der ersten Femme: der ersten trans Sexworkerin, die dort ermordet wurde. Als eine weitere Frau das Opfer eines mörderischen Kunden wird, schließen sich die Femmes zu einer Gang zusammen, um cis Männer das Fürchten zu lehren. Das klingt ziemlich schrecklich, es ist aber tatsächlich ein dunkel-poetisches Märchen über viele verschiedene solidarische, zerstrittene, zaubermächtige, streitbare trans Frauen, dem nie das Wundersame abhandenkommt.
Schon etwas älter, aber nachdem wir bisher nur den gleichnamigen Film kannten, haben wir die ersten beiden Staffeln (von bislang vieren) der Mockumentary-Serie What We Do In The Shadows von u.a. Taika Waititi geschaut (auf Disney+). Vier Vampire und ihr Vertrauter leben in einer alten Villa in Staten Island, und ein Kamerateam begleitet ihren Alltag. Nandor, Nadja und Laszlo sind die übliche Sorte - blutdurstig, gestaltwandelnd, sonnenallergisch, überdramatisch - während der vierte Vampir, Colin Robinson, ein Energie-Vampir ist, ein Daywalker, der den Kolleg*innen bei seinem Bürojob die Energie durch unfassbar unaushaltbaren Smalltalk entzieht. Den vieren dient Guillermo, ein schüchterner Mensch, der erwartet, von seinem Meister jeden Moment zum Vampir gemacht zu werden. Das Ganze ist so absurd-lustig, wie es klingt. (Wer keine Popo-Pimper-Kotz-Witze mag, sei allerdings vorgewarnt.)
Lena empfiehlt:
Ich bin weiter aktuell sehr schlecht im Lesen und konsumiere stattdessen alle möglichen Musik–related Filme und Serien, da müsst ihr jetzt leider mit mir durch!
Empfehlung 1 hat immerhin eine Buchvorlage: Ich habe Daisy Jones and the Six auf Amazon Prime geschaut. In der Verfilmung des Romans von Taylor Jenkins Reid (die auch an der Serie mitgearbeitet hat) geht es um eine fiktive Rockband, die Ende der 70er-Jahre zu großer Berühmtheit gelangt, allerdings nach dem letzten Konzert ihrer US-Tour ihre Auflösung bekannt gibt. 20 Jahre später schafft eine junge Journalistin es, alle ehemaligen Mitglieder sowie weitere Beteiligte vor die Kamera zu kriegen, um darüber zu reden, was damals eigentlich passiert ist. Daraus entwickelt sich eine sehr musik- und dramalastige Serie über aufsteigende Musiker*innen, den Preis der Berühmtheit, die Verwicklungen und Probleme, die das alles mit sich bringt - Sex, Drugs and Rock’n’Roll eben. Das alles wird immer wieder kommentiert von den 20 Jahre älteren Bandmitgliedern und natürlich fragt man sich, wie es denn am Ende zum Zerbrechen der Gruppe kommen konnte. Zugegeben, große Überraschungen hielt die Antwort auf diese Frage nicht bereit, es bricht alles sehr an den Sollbruchstellen, die sich von Beginn an abzeichnen. Und die letzten 15 Minuten der Serie habe mich ziemlich das Gesicht verziehen lassen, da wurde das Ende doch sehr in eine Richtung geschoben, die mir nicht gefiel. Macht aber insgesamt nichts, die 10 Folgen sind trotzdem unterhaltsam, voll toller 70-er-Jahre-Klamotten, schöner Musik (es gibt das Album “Aurora” tatsächlich in voller Länge) und sperriger, komplizierter Figuren, die sich selbst und der Band immer wieder im Weg stehen. Die Adaption hat dem Romanplot noch eine queere Liebesgeschichte hinzugefügt, die mir ebenfalls gut gefallen hat. Ich bin jetzt neugierig auf das Buch, auch wenn das dann wieder mein Problem mit der Lesefaulheit betreffen würde - solange höre ich dann einfach weiter das Album.
Mehr Musik: Die Musical-Verfilmung Tick, Tick … Boom! auf Netflix hatte ich letztes Jahr schon einmal gesehen, habe sie aber neulich ein zweites Mal geschaut und war vom Rewatch noch mehr angetan als vom ersten Schauen. Unter der Regie von Lin-Manuel Miranda spielt Andrew Garfield die Hauptrolle des Jonathan Larson, dessen wohl bekanntestes Musical “Rent” ist. Doch Tick, Tick … Boom! erzählt davon, wie er kurz vor seinem 30. Geburtstag an seinem Musical “Superbia” arbeitet, einem in der Zukunft angesiedelten SciFi-Opus, das in Kürze bei einem “Workshop”, also einer Art Aufführung ohne Bühnenbild für interessierte Produzent*innen, vorgestellt werden soll. Doch noch fehlt ihm der entscheidende Song für den zweiten Akt, seine Agentin meldet sich nicht, seine Freundin ist sauer, weil er nur an die Arbeit denkt, die Miete will bezahlt werden und der Nebenjob als Kellner ist auch noch da … ihr seht schon, das Leben zwischen Kreativität und Lohnarbeit in der Hoffnung auf den großen Durchbruch ist auf jeden Fall eins der großen Themen des Musicals. Und tatsächlich liegt für mich darin auch die große Stärke des Films, denn er fängt das Gefühl, gegen alle Widerstände und unter großem Druck Kunst zu machen, extrem gut ein, zeichnet Larson als sympathischen, aber auch furchtbar ich-bezogenen Komponisten, den man mal umarmen und mal gründlich durchschütteln möchte. Dabei springt der Film immer wieder zwischen dem echten Leben und der späteren Nacherzählung als Bühnenfassung hin und her, was auch einen interessanten Blick darauf wirft, wie wir unsere eigene Geschichte am Ende erzählen wollen. Andrew Garfield macht einen sehr guten Job als Hauptdarsteller, die weiteren Schauspieler*innen sind auch sehr toll, es gibt wenig überraschend einen Haufen Cameos von Broadway-Größen und viele schön inszenierte Musikdarbietungen. Nach dem zweiten Schauen kann ich sagen: Definitiv in der Top 10 der Musicalfilme für mich!
So, und nachdem ich den Film zum zweiten Mal gesehen hatte, wollte ich dann auch endlich mal Rent sehen, das Musical, mit dem Larson schließlich berühmt wurde. Die 2019 veröffentlichte Live-Fassung war leider nirgendwo zu finden, aber auf YouTube kann man für ungefähr 5 Euro den Film von 2005 ausleihen. Ich war gleich erstmal überrascht, wie viele Schauspieler*innen ich kannte - dass Anthony Rapp aka Paul Stamets aus Star Trek Discovery mit dem Musical bekannt wurde, wusste ich ja schon, aber dass in dem Film auch Rosario Dawson, Indina Menzel und Jesse L. Martin mitspielen, dann doch nicht. Inhaltlich dreht Rent sich um eine kleine Gruppe von Freund*innen und Bekannte, die in den frühen 90-ern in New York versuchen, mit ihrer Kunst Geld zu verdienen (ja, man merkt, dass Larson sich den Rat, doch über Dinge aus seinem eigenen Leben zu schreiben, der ihm zumindest in der Film-Version von Tick Tick Boom gegeben wird, ernst genommen hat). Die Figuren von Rent sind größtenteils arm und größtenteils queer, einige sind HIV-positv, einige sind drogenabhängig. Zwischen den Weihnachtsfesten zweier aufeinander folgender Jahre passiert einiges und dann doch nicht so viel, dass sich am Ende der Zustand der Welt groß geändert hätte, es geht um künstlerische Proteste, Liebe, Freundschaft - und eben ständig um die Frage, wie man im nächsten Monat die Miete zahlen kann. Für ein Musical von 1996 und einen Film von 2005 fand ich den Umgang mit den queeren Figuren erstaunlich sensibel, selbst bei Angel, der*die im Film als Dragqueen bezeichnet wird, meiner Ansicht nach mit heutigem Blick aber sowohl als trans Frau als auch als genderfluide Person gelesen werden könnte. Indina Menzel ist im Film quasi die Verkörperung des Disaster-Bi-Tropes, aber seien wir ehrlich, bei DIESEN Oberarmen, wer kann es verdenken …? :D (Ich? Einen Crush auf sie in diesem Film? Naaaaaa.) Durch die erwähnten Themen gibt es natürlich nicht für alle Figuren ein Happy End und der Film sucht sich auch geschickt einen Moment zum Abblenden aus, in dem alles vielleicht ein wenig hoffnungsvoller erscheint, ohne dass es dafür einen berechtigten Grund gebe. Jedenfalls - ich verstehe, wieso das Musical so ein Meilenstein ist und bin froh, es endlich mal gesehen zu haben!
Danke fürs Abonnieren und Lesen und bis zum nächsten Monat!
Christian, Judith und Lena